Bruno Bettelheim
,,Jeder Zeitpunkt und jede Umgebung haben ihre besondere therapeutischen Möglichkeiten, die wir uns zunutze machen müssen.“
Bruno Bettelheim (1903 – 1990), Psychoanalytiker und Kinderpsychologe, lebte ursprünglich in Wien und besuchte Vorlesungen von Freud. Nach seiner Inhaftierung und Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau wanderte er in die Vereinigten Staaten aus. Er gründete in Chicago die „Orthogenic School“, ein Heim für Kinder mit schweren psychischen Störungen.
Wichtige Ansätze
Bettelheim hat innerhalb der psychoanalytischen Pädagogik insbesondere die sog. Milieutherapie mitentwickelt. Dieser Ansatz sieht vor, mit Kindern weniger unmittelbar therapeutisch zu arbeiten, sondern den Alltag der Kinder und insbesondere die Räume des Heims so zu gestalten, dass sie als Milieu eine therapeutische Wirkung entfalten können.
Bettelheim geht davon aus, dass zu jedem Zeitpunkt jede Art von Umgebung das Potenzial hat, für eine therapeutische Behandlung förderlich zu sein. Statt die Erfahrungen der Kinder im therapeutischen Gespräch zu reflektieren, sollen sie in alltäglichen Situationen der Kinder und Jugendlichen aufgearbeitet werden. Laut Bettelheim können routinehafte alltägliche Tätigkeiten im richtigen Kontext zu wichtigen Erlebnissen auf dem Weg zur Überwindung von Entwicklungsproblemen werden. Denn die Situationen, die im Alltag entstehen, spielen sich an verschieden Orten ab. Diese unterschiedlichen Orte bieten den Betroffenen die Möglichkeit, ihre Schwierigkeiten auf unterschiedliche Art und Weise anzugehen.
Manche Räume sind dafür förderlich, andere stehen dieser pädagogischen Arbeit im Weg. Der milieutherapheutische Ansatz befasst sich deswegen zum einen damit, wie Räume physisch gestaltet werden müssen, damit sie für die pädagogische Arbeit unterstützend wirken können. Zum anderen setzt er sich damit auseinander, wie Räume die Emotionen von Kindern und Jugendlichen beeinflussen.
Die physische Gestaltung von Räumen beeinflusst, wie Kinder und Jugendliche sich darin verhalten können. Beispielsweise misst Bettelheim Fluren eine andere Bedeutung zu, als man es normalerweise tun würde. Statt als Transportweg, sieht er sie als einen Ort, an dem Kinder sich zwanglos bewegen können. Hier können sie sich ausprobieren und die Art ihrer Tätigkeit frei wählen. Im Vergleich zum Beispiel zum Schlafzimmer, Speiseraum, Klassenzimmer etc., in denen die Tätigkeit meist vorgeben sind.
Nach Bettelheim senden Räume, Gegenstände in den Räumen und Umgebungen sogenannte ‚Stille Botschaften‘ an ihre Bewohner*innen. Diese Gestaltungelemente haben also eine Gefühlbedeutung. Beispielsweise sind hübsch und individuell gestaltete Räume ein Zeichen dafür, dass die Bewohner*innen es wert sind, sie mit diesem Luxus auszustatten. Dabei können diese Botschaften am besten erfahren werden, wenn man die Räume oder Gegenstände darin selbstständig erkunden kann, bspw. durch Berührung. Das Ziel der ‚Stillen Botschaften‘ soll es sein, dass in dem Raum zugleich Sicherheit und Möglichkeiten der Herausforderung zu finden sind. Die Kinder und Jugendlichen sollen durch die Gestaltung Wertschätzung erfahren.
Einen wichtigen Beitrag leistet die Individualisierung von Räumen – insbesondere die Gestaltung des eigenen Zimmers in der Wohngruppe (durch persönliche Gegenstände), damit die Kinder sich diese Räume besser aneignen können und sie als ihre empfinden.
Für Bettelheim zählt nicht, ob die Kinder und Jugendlichen ein Objekt genauso nutzen, wie er es vorgesehen hat. Mehr noch geht er davon aus, dass sie es erst tatsächlich für sich nutzen können, wenn sie ihm einen eigenen Nutzen zugewiesen haben. Trotzdem ist es wichtig, sich bei der Einrichtung die Frage zu stellen, was man mit bestimmten Gestaltungselementen erreichen möchte, indem man versucht, aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen und der eigenen Zielperspektive eine passende Gestaltung zu arrangieren.
Schlussendlich kann man davon ausgehen, dass die Gestaltung der Räume in denen pädagogische Arbeit stattfindet, sehr stark dazu beiträgt, dass sie gut gelingen kann.
Darüber hinaus verlangt der milieuorientierte Ansatz das Betrachten weiterer äußerer Umstände, wie des Zusammenhangs zwischen dem Verhalten der Fachkräfte, ihren Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen und der Eignung der Rahmenbedingungen, wie z.B. der Eignung der Regeln und der Gruppenzusammensetzung.
Nachdenken über Erziehung mit Bettelheim
,,Die Gruppe übt einen therapeutischen Einfluss auf das Individuum aus.“
Bettelheim argumentiert, dass eine Gruppe von anderen Kindern oder Jugendlichen natürlicher auf ein Kind oder einen Jugendlichen reagieren kann, als eine mit der Erziehung betraute Person. Somit hat die Gruppe die Fähigkeit, das Kind auf Fehler aufmerksam zu machen und es an einem Gewinn bringenden Gruppenleben teilhaben zu lassen. Allerdings beschreibt er auch die negative Bedeutung von Gruppen, wenn die Integration nicht gut gelingt.
Sie können sich also mit Bettelheim fragen, was Sie tun können, um ihr momentanes Gruppenleben in der Tages- oder Wohngruppe zu verbessern. Wie können Sie es schaffen, dass die Kinder sich gegenseitig unterstützen und helfen, statt sich gegenseitig abzuwerten und zu schädigen? Auch wenn die Kinder in der Tages- oder Wohngruppe die Gruppenmitglieder nur bedingt (mit) auswählen können, eröffnen Gruppen dennoch Wahlmöglichkeiten in den Beziehungen zu anderen Kindern. Wie können Sie Kinder dabei unterstützen, positive und für sie hilfreiche Sozialbeziehungen zu favorisieren und zu gestalten?
„Regeln machen die spontane, Freunde schaffende Beziehung zu einer theoretischen Entfremdung von Eltern und Kindern.“
Bettelheim geht davon aus, dass eine natürliche, nicht erzwungene Beziehung der Kinder und Jugendlichen zu Fachkräften ihnen hilft, ihre Schwierigkeiten anzugehen, weil die Fachkräfte oder die Eltern als Vorbild dienen. Die Beziehung muss dafür allerdings selbst gewählt sein. Nach Bettelheim brauchen Kinder die Eltern und die Fachkräfte, um deren Selbstbeherrschung und ihr richtiges Verhalten zum Vorbild zu nehmen und dies für sich ebenfalls anzustreben. Wenn Regeln aufgestellt werden, um Selbstbeherrschung zu erzwingen, dann verliert die Vorbildfunktion der Eltern oder der Erziehungsberechtigten an Wert und Bedeutung. Deswegen entwickelt das Kind nicht den Wunsch und die Kraft, die nötige Selbstbeherrschung von sich aus zu erlernen.
Sie können also mit Bezug auf die Arbeit von Bettelheim im Team und mit Eltern besprechen, wann/ob Sie den Kindern und Jugendlichen in letzter Zeit keine guten Vorbilder waren. Sie können sich auch darüber austauschen, wie die Kinder und Jugendlichen in Ihrer Obhut die Regeln wahrnehmen, deren Einhaltung Sie verlangen und ob diese Regeln die Eigenmotivation zum Lernen eventuell eher behindern als fördern.
,,Jeder Zeitpunkt und jede Umgebung haben ihre besondere therapeutischen Möglichkeiten, die wir uns zunutze machen müssen.“
Schließlich können Sie ihr pädagogisches Milieu – d.h. Ihre Räume daraufhin untersuchen, wie sie physisch gestaltet sind und welche Gefühle Sie damit vermutlich bei Kindern und Jugendlichen auslösen. Sie können sich auch fragen, zu welchen Tätigkeiten Ihre Räume die Bewohner*innen anleiten und welche Tätigkeiten durch sie eher verhindert werden.
Weiterführende Literatur
Eine gute Einführung in die Pädagogik Bettelheims gibt das Buch von Franz-Josef Krumenacker: Bruno Bettelheim. Ernst Reinhardt Verlag 1998