Regeln gemeinsam entwickeln

1. Beschreibung der Herausforderung

Wenn Kinder und Jugendliche mit Regeln konfrontiert werden, entsteht häufig ein Bedürfnis, diese zu brechen. Das könnte vielleicht daran liegen, dass die Regeln für die Kinder nicht verständlich und nachvollziehbar, nicht fair oder nicht angemessen sind. Daher ist es wichtig, Kinder und Jugendliche beim Aufstellen von Regeln mit einzubeziehen. Hierbei kann es helfen, zu hinterfragen, was den Kindern wichtig ist, was sie sich beispielsweise für ein positives Miteinander wünschen. So bekommen sie das Gefühl und die Bestätigung, gehört zu werden und können aktiv auf das Regelwerk der Einrichtung (oder aber des familiären Haushalts) einwirken. Sie merken, dass ihnen echtes Interesse seitens der Fachkräfte/ Eltern entgegengebracht wird und dass ihre Wünsche gehört und ihre Meinung gefragt sind.

Wenn die Regeln für die Kinder nachvollziehbar und attraktiv sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass diese auch eingehalten werden. Natürlich kann insbesondere im Bereich der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe nicht immer gewährleistet werden, dass jede Regel für jedes Kind und jeden Jugendlichen attraktiv ist, aber hier muss gelernt werden, mitbestimmen zu können und gleichzeitig auch Kompromisse eingehen zu müssen. Gemeinsam Regeln aufzustellen heißt, dass die Wünsche aller Beteiligten gehört werden sollten, sowohl die der Kinder als auch die der Fachkräfte/ Eltern.

2. Unterschiedliche fachliche Argumente

In Bezug auf das Thema Regeln in der Erziehung gibt es in der Geschichte der Pädagogik viele unterschiedliche fachliche Haltungen. Lange Zeit wurde der Fokus in der Erziehung darauf gelegt, dem Kind beizubringen, sich in der Gesellschaft anständig zu benehmen um dort akzeptiert zu werden und angesehen zu sein. Hierbei wurde von den Erwachsenen festgelegt, was richtig und was falsch ist. Richtiges Verhalten wurde belohnt, falsches Verhalten hingegen bestraft. Floskeln wie „Der Teller muss leer gegessen werden“ prägten lange Zeit Alltag und Erziehung. Die Regeln der Erwachsenen wurden ohne Widerwillen akzeptiert, die Kinder mussten gehorchen und durften die Regeln nicht hinterfragen. Auch heute findet man vereinzelt noch Züge dieser autoritären Haltung, häufig dann, wenn die Erwachsenen keine andere Möglichkeit zur Durchsetzung von Regeln sehen.

Sigrid Tschöpe-Scheffler, eine Pädagogin der heutigen Zeit und Vertreterin eines autoritativen Erziehungsstils, betont die Bedeutung von Regeln im familiären und Wohngruppenkontext aus einem anderen Grund. Sie vertritt die Haltung, dass Regeln, sofern sie allen Mitgliedern der Gemeinschaft bekannt sowie für alle einsichtig sind, für Verbindlichkeit und Struktur im Alltag sorgen. Sie legen nicht nur Grenzen und Verbote fest, sondern geben Kindern und Jugendlichen Orientierung und Klarheit.

Im Gegenzug dazu gibt es Pädagog*innen, die vorschlagen, möglichst wenig Regeln festzulegen bzw. das Aufstellen von Regeln in der Erziehung fast gänzlich ablehnen, wie zum Beispiel der Psychoanalytiker und Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903-1990). Er vertritt die Meinung, dass Kinder, vertreten durch ihre Eltern / Fachkräfte, positive Vorbilder brauchen, die ihnen ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung vorleben, was wiederum von den Kindern übernommen wird. Wenn Regeln aufgestellt werden, hemmt dies laut Bettelheim den Wunsch und das Streben des Kindes, den Verhaltensweisen seiner Vorbilder nachzueifern. Der Glaube an die Eigenmotivation des Kindes steht hier also im Vordergrund. Voraussetzung für diese Art von Erziehung ist jedoch, dass Kinder positive Vorbilder zur Vermittlung von Selbstbeherrschung haben, mit denen sie sich identifizieren können – was nicht in jedem familiären Kontext / Hilfesystem gegeben ist.

Mit der Zielsetzung, Kinder zu selbstbewussten und eigenständigen Persönlichkeiten zu erziehen, wurde den Kindern im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend ein Recht auf Mitbestimmung und die Möglichkeit der Einflussnahme gewährt. Heute sprechen wir immer wieder von dem Begriff der Partizipation, der in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken ist. Kinder und Jugendliche an ihrem Alltag aktiv teilhaben zu lassen, ob dieser nun im familiären Kontext oder aber in einer Einrichtung stattfindet, ist wertvoll für die Entwicklung und die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. Wenn Kinder das Gefühl bekommen, gehört zu werden und mitreden zu dürfen, steigert dies ihre Motivation. Das kann sich positiv auf die (Arbeits-)Beziehung zwischen Fachkraft und Kindern / Jugendlichen sowie auf deren Wohlbefinden auswirken. Auch im familiären Kontext kann sich dieser Aspekt positiv auf die Beziehung der Familienmitglieder auswirken.

3. Fragen zum Weiterdenken

  • Wie finden Sie es, dass Kinder und Jugendliche bei der Aufstellung von Regeln beteiligt werden sollten? Was finden Sie an der Idee gut/ schlecht? Wie kann es gelingen, Kinder einzubeziehen? Was können Sie tun, wenn Sie Vorschläge von Kindern nicht annehmen möchten?
  • Wer bestimmt die Regeln in Ihrer Einrichtung/ in Ihrer Familie?
  • Wie haben Sie Regeln als Kind erlebt? Wer hat die Regeln vorgeschrieben? An welche Regeln konnten Sie sich gut halten und wann war es schwierig?
  • Wie handhabt Ihre Wohn- bzw. Tagesgruppe das Einhalten beziehungsweise Nichteinhalten von Regeln? Drohen Konsequenzen, wenn Regeln nicht eingehalten werden?
  • Was halten Sie von der Haltung von Bruno Bettelheim, auf Regeln weitgehend zu verzichten und den Kindern durch Ihre Vorbildrolle deutlich zu machen, wie Zusammenleben gelingen kann? Kann es sein, dass in Ihrer Gruppe zu viele Regeln aufgeschrieben sind und die Kinder zu wenig gefordert sind, sich selbst Gedanken über positives Zusammenleben zu machen? Schwächen Sie durch die Vielzahl an Regeln eventuell auch Ihre Vorbildrolle?
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