Siegfried Bernfeld
„Erziehung ist die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“
Siegfried Bernfeld (1892 – 1953), Wiener Reformpädagoge, Psychoanalytiker, Mitbegründer der modernen Jugendforschung
Wichtige Ansätze
Siegfried Bernfeld wurde schon als Schüler einer der Sprecher der Jugendbewegung und gab gemeinsam mit anderen eine deutschlandweite politische Jugendzeitschrift heraus. Zu Studienzeiten wurde er Mitbegründer der Jugendforschung und beschäftigte sich intensiv mit der Psychoanalyse. Im Jahr 1918 – nach dem ersten Weltkrieg – gründete er das Kinderheim Baumgarten in Wien für 250 jüdische Kriegswaisen und experimentierte mit reformpädagogischen Ideen der Demokratieerziehung und Gemeinschaftsbildung. Im Jahr 1925 veröffentlichte er sein theoretisches Hauptwerk „Sisyphos – oder die Grenzen der Erziehung“. Im Nationalsozialismus musste er in die USA emigrieren, wo er sich als Psychoanalytiker niederließ und viele psychologische Fachpublikationen veröffentlichte.
Bernfeld gründete im Kinderheim Baumgarten gemeinsam mit den Kindern eine „Schulgemeinde“, d.h. eine Vollversammlung aller Kinder, die durch Ausschüsse und ein Kindergericht ergänzt wurde. In der Selbstorganisation der Kinder wurden Regeln geschaffen und Konflikte bearbeitet. Vor allem ging es aber darum, durch Partizipation gemeinsam ethisch-moralische Werte zu erschaffen.
Er verstand sich auch als sozialistischer Pädagoge, der die Kinder durch Erziehung auf das Leben in einer zukünftigen gerechteren Welt ohne Ausbeutung vorbereiten wollte. Konkret unterstützte er viele Jahre die zionistische Idee und hoffte, dass die Kinder aus seinem Kinderheim in einem neuen, sozialistischen Staat Israel mit ihren demokratischen Vorerfahrungen eine wichtige Rolle spielen könnten.
Bernfeld war auch einer der Vordenker für die Kibbuzerziehung, bei der die Kinder zunächst schon im Kleinkindalter in einem Kinderhaus aufwuchsen und dort auch übernachteten. Sie hatten zwar täglichen Kontakt zu ihren Eltern, aber die Familie war von Erziehungsaufgaben deutlich entlastet. Die theoretischen Grundlagen der Kibbuzerziehung basierten auf demokratischen Erziehungsideen (aufwachsen in einer demokratischen Kindergemeinschaft) und psychoanalytischen Erfahrungen, dass viele Eltern und ihre Kinder sich in der Kleinfamilie in Konflikte verstricken, die letztlich zu Gewalt im Generationenverhältnis führen und sich in psychischen Störungen der Kinder ausdrücken.
Siegfried Bernfeld war nach dem Ende des Nationalsozialismus in der deutschen Erziehungswissenschaft in Vergessenheit geraten – seine Schriften waren nicht mehr verfügbar. Erst Reinhart Wolff und ein Mitstudent aus der 1968er Bewegung entdeckten die Schriften Siegfried Bernfelds wieder und veröffentlichten die wichtigsten in vier Bänden. Sie wurden zu wichtigen Grundlagen der damals entwickelten antiautoritären Erziehung.
Nachdenken über Erziehung mit Bernfeld
Siegfried Bernfeld dient bis heute für Theorie und Praxis der Pädagogik als Inspiration. Rasant sind z.B. seine Ideen zur Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftserziehung. Im Kinderheim Baumgarten wählten sich alle Kinder Jugendclubs aus, denen sie angehörten. Diese Clubs gestalteten die Freizeit zusammen und übernahmen wichtige Aufgaben für die Gemeinschaft. So gab es z.B. viele Kinder, die sich dem Club der Nachwächter anschlossen, die nachts um das Kinderheim patroullierten. Andere kümmerten sich um Garten und Landwirtschaft, gaben Nachhilfe etc. Wie aus Gruppen und Einrichtungen der Jugendhilfe Gemeinschaften werden, ist heute ein wenig beachtetes Thema – Bernfeld als Pädagoge der Jugendbewegung kann hierzu viele Anregungen geben.
Viele Kinder, die im Kinderheim Baumgarten aufgenommen wurden, waren als Kriegswaisen und nach Monaten in katastrophalen anderen Waisenhäusern schwer traumatisiert und eigentlich ‚nicht erziehbar‘. Bernfeld bezeichnete diesen Zustand als primären Narzissmus – die Kinder wollten nur ihre primären Bedürfnisse nach Essen, Besitz, Schlaf etc. befriedigen. Durch die Attraktivität der Gemeinschaft des Kinderheims Baumgarten gelang es ihm und seinem Team, über den Umweg des sekundären Narzissmus, die Kinder nach und nach für Schulbildung und Erziehung zu interessieren. Auch dieser Weg wirft Fragen für die heutigen Hilfen zur Erziehung auf: können ihre Angebote so attraktiv sein, dass man sich als Kind erst mal darauf einlässt, Teil einer ‚coolen‘ Tages- oder Wohngruppe zu werden, deren Mitglied man werden kann?
Bernfeld und sein Team kamen zunächst in Baumgarten in ein absolutes Chaos. Sie schufen Ordnung erst nach und nach – gemeinsam mit den Kindern, die das Chaos ebenfalls störte. So wurden demokratische Gremien und Verfahren prozesshaft entwickelt und man kann Bernfelds lesenswertem Bericht entnehmen, wie durch Partizipationsprozesse erst eine äußere Ordnung und dann auch eine innere, moralische Ordnung entstand. Auch das ist für heutige Pädagogik wahnsinnig modern.
Weiterführende Literatur
Siegfried Bernfeld: Werke. Insbesondere Band 4 ‚Sozialpädagogik‘. Psychosozial-Verlag 2012