Moralische Entwicklungsförderung
1. Beschreibung der Herausforderung
Wie schaffen wir es, die moralischen Werte von Kindern zu fördern und sie zu moralischen Handlungen zu motivieren? Inwieweit und ab welchem Alter sind Kinder überhaupt zur moralischen Urteilsbildung fähig?
Als Beispiel sei hier der Umgang mit Gleichaltrigen und/oder Schwächeren genannt. Was müssen Kinder lernen, damit sie sich gegenseitig fair behandeln? Mit der Förderung von moralischer Urteilsbildung können Eltern und Fachkräfte unter anderem darauf einwirken, dass Gewalt unter Kindern, zum Beispiel Mobbing, reduziert wird. Für die moralische Entwicklung ist neben dem Reflexionsvermögen die Fähigkeit zur Empathie sehr bedeutend. Kinder, die aus belasteten Familienkontexten kommen, haben diesbezüglich häufig Nachholbedarf. Umso wichtiger ist es, dass Fachkräfte empathisches, wertschätzende Verhalten vorleben und die moralische Entwicklung fördern.
2. So geht das
Lange Zeit wurde in der Fachwelt angenommen, dass Kinder noch keine Empathie kennen und sie dementsprechend auch nicht zu moralischen Urteilen fähig sind. Die gängige Annahme war, Kinder würden ihr Urteilsvermögen insbesondere an Regeln und Strafe fest machen. Strafen sind mittlerweile eher verpönt und auch die Annahme, dass Kinder nicht zur Empathie fähig sind, wurde mehrfach widerlegt.
In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung bewiesen, dass Kinder schon früh zu moralischen Gefühlen fähig sind. Besonders bedeutsam war eine Studie von E. Turiel, L. Nucci und J. Smetana, die belegt, dass schon Vierjährige zwischen moralischen und konventionellen Regeln unterscheiden können. Als konventionelle Regeln gelten soziale Normen wie Tischmanieren oder Kleidungsvorschriften, während moralische Regeln sich zum Beispiel auf Gerechtigkeit beziehen. Ab dem Vorschulalter entwickelt sich bei Kindern langsam die Fähigkeit, negative emotionale Folgen für andere vorhersehen zu können. Nunner-Winkler und Sodian führten diesbezüglich 1988 ein Experiment durch. Dabei kam heraus, dass drei Viertel der Vierjährigen einem Jungen, der einem anderen Jungen Bonbons stiehlt, positive Emotionen zuschreiben, da der stehlende Junge sein Ziel erreicht. Bei den Sechsjährigen waren es nur noch 40% und bei den Achtjährigen reduzierte sich der Anteil auf 10%. Die älteren Kinder begründeten ihre negativen emotionalen Zuschreibungen häufig mit der moralischen Ungerechtigkeit.
Die Moralentwicklung von Kindern wird stark, aber nicht nur, vom sozialen Umfeld geprägt. Besonders bedeutsam für die Bildung moralischer Werte sind eine einfühlsame Erziehung, die Erfahrung von sicheren, liebevollen Beziehungen und die offene Thematisierung unterschiedlicher moralischer Einschätzungen. Kinder aus belasteten Familiensituationen bringen diesbezüglich häufig unzureichende, beziehungsweise negative Erfahrungen mit. Desto wichtiger sind ein einfühlsamer, die Empathie fördernder Umgang der Fachkräfte in der (stationären) Kinder- und Jugendhilfe und die Auseinandersetzung über moralische Konflikte .
Eine machtorientierte Erziehung führt lediglich zur Anpassung und steht der eigenständigen Bildung von Moral und Empathie entgegen. Eine Erziehung, die darauf ausgelegt ist, Konflikte auszuhandeln, Regeln und Normen zu begründen sowie die Folgen von sozialen Handlungen zu erklären, fördert Kinder bei der Entwicklung von Empathie und moralischen Werten. Über Gefühle zu sprechen unterstützt Kinder dabei, die Perspektiven anderer Menschen besser erkennen und verstehen zu können.
Piaget verweist darauf, dass moralische Werte nicht allein durch äußere Prägung entwickelt werden. Abhängig vom Entwicklungsstand deuten Kinder ihre Erfahrungen und entwickeln eigene, normative Sichtweisen, die sie mit vorgelebten Werten verknüpfen. Soziale Regeln, zum Beispiel nicht stehlen oder nicht schlagen, lernen Kinder relativ früh. Ein wichtiger Schritt in der moralischen Entwicklung ist aber die moralische Motivation, also unabhängig vom eigenen Vorteil etwas tun zu wollen, weil es als moralisch richtig betrachtet wird. Diese Motivation entwickelt sich mit zunehmendem Alter und hängt stark mit der Sozialisation zusammen. Auffällig ist, dass jugendliche Mädchen im Durchschnitt wesentlich öfter moralische Motivation zeigen, als gleichaltrige Jungen. Dieses Phänomen kann auf geschlechtsspezifische Sozialisation zurückgeführt werden. Die moralische Entwicklung beginnt zwar in der Kindheit, braucht aber auch die Zeit der Jugend bis zum Erwachsenalter, da moralisches Denken ein Verständnis von komplexen Zusammenhängen erfordert.
3. Beispiel
Moralische Urteile werden bereits von Kindern eigenständig konstruiert. Aufgrund der Vielfältigkeit von moralischen Dilemmata, kann Moral nicht einfach abgeguckt oder auswendig gelernt werden. Es zeigt sich aber, dass die Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Konflikten für die Moralentwicklung ein wichtiger Lernfaktor ist. Die geduldige Austragung von Interessenkonflikten hat dementsprechend eine sehr positive Auswirkung und kann von Eltern sowie Fachkräften als Möglichkeit der Lernförderung betrachtet werden. Nehmen wir als Beispiel die Erledigung von Küchendiensten in der Tages- oder Wohngruppe. Es gibt einen ‚Ämterplan‘ und alle Kinder und Erwachsenen hoffen, dass dieser ausreichend ist, um ‚Gerechtigkeit‘ herzustellen. Nun wird aber bei genauer Betrachtung klar, dass der Ämterplan nicht dafür sorgt, dass die anfallenden Aufgaben so erledigt werden, dass es gutes Essen gibt und die Küche wirklich sauber ist. Mit anderen Worten, die gesellschaftlichen und gruppenbezogenen Spielregeln und Gesetze schaffen einen Rahmen für das Miteinander, doch das reale Leben ist vielfältiger und erfordert genaues Betrachten und Bewerten: Hat vielleicht jemand nicht gekocht, weil er/sie zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt war? Und wie ist zu bewerten, dass diese Person dafür aber zuvor durch besonders engagiertes Kochen aufgefallen ist? Soll man ihr das Nicht-Kochen vergeben oder muss sie einen zusätzlichen Dienst übernehmen?
Der Moralpsychologe Kohlberg empfahl zur Förderung der moralischen Entwicklung, solche widersprüchlichen Dilemmasituationen mit Kindern regelmäßig zu diskutieren oder in Rollenspielen zu bearbeiten. Außerdem soll es einen regelmäßigen Gruppenrat geben, der moralische Konflikte bespricht und entscheidet.
4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten und Kritik
Die von Piaget und Kohlberg ausgearbeitete Theorie der moralischen Entwicklung von Kindern legte nahe, dass Kinder zunächst die konventionelle Moral – also die Anpassung an vorgegebene Werte und Normen – erlernen sollten, bevor sie später als Jugendliche oder Erwachsene in der Lage sein könnten, autonome moralische Bewertungen vorzunehmen. Diese Denkrichtung bestimmt häufig die Strukturen und Praxis in Wohn- und Tagesgruppen, die davon geprägt sind, dass die Kinder Orientierung und feste Wertschemata für ihre Entwicklung benötigen. Die neuere Entwicklungspsychologie zeigt aber immer stärker auf, dass Kinder schon früh zu komplexerem moralischem Denken, Fühlen und Handeln in der Lage sind. Entsprechend braucht es auch gerade in Wohn- und Tagesgruppen Gelegenheiten, an moralischen Fragen zu ‚arbeiten‘, Lösungen für Konflikte mitzuerfinden und Entscheidungen auszuhandeln.
Konflikte sind die Basis moralischer Entwicklung. Im Zusammenleben der Gruppe gibt es genug davon und es ist wichtig, sie aufzugreifen und gemeinsam zu thematisieren. Im Team können Sie sich daher fragen, in welchen Situationen es sich lohnt, konfliktfreudiger zu sein und Kindern somit mehr Chancen zur Reflektion von verschiedenen Sichtweisen zu geben.
Gibt es Möglichkeiten, die moralische Entwicklung spielerisch, zum Beispiel mit Rollenspielen, stärker zu fördern?
5. Material / Links
Der Podcast ‚Sociopod‘ enthält eine Folge zu Kohlbergs Modell der Moralentwicklung: https://soziopod.de/2018/07/kohlberg-moral-stufen-entwicklungstheorie/
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