Wilma Weiß

„Selbstbemächtigung ist für mich der wesentliche Teil der Bewältigung traumatischer Erfahrungen einerseits und andererseits die Behauptung des Eigensinns in der sich gegenwärtig verändernden Gesellschaft.“

Wilma Weiß, Dipl.-Pädagogin und Dipl.-Sozialpädagogin, begleitete von 1973 bis 2015 in verschiedensten Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe traumatisierte Kinder. Während der Enttabuisierung sexueller Gewalt Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten pädagogischer Traumaarbeit. Dies führte schließlich zu den ersten traumapädagogischen Fortbildungen 2002 und 2003 zur Publikation von »Philipp sucht sein Ich«. Im Kontakt mit Martin Kühn initiierte sie die Gründung der BAG Traumapädagogik (heute Fachverband Traumapädagogik) und engagierte sich im Vorstand und im Expert*innenrat des Fachverbandes. Als Leiterin des Zentrums für Traumapädagogik in Hanau beteiligte sie sich an der Weiterentwicklung der Traumapädagogik.

Wichtige Ansätze

Wilma Weiß ist es wichtig, Aufklärungsarbeit darüber zu leisten, was Pädagogik und vor allem Traumapädagogik leisten können, wie sie für Klarsicht und Handlungsfähigkeit sorgen.

Für Wilma Weiß bedeutet Trauma nicht etwa ‘Seelenmord‘ im Sinn von ‚für immer geschädigt‘. Für sie sind Traumata ‘herausfordernde Lebensumstände‘“. Damit wird das Trauma zu einem zwar schrecklichen, aber zu bewältigenden Lebensereignis. Den Kindern und Jugendlichen wird eine Perspektive zugestanden. Sie ist der Meinung, dass ein gutes Leben bei guter Begleitung und Unterstützung, trotz traumatischer Erfahrungen, möglich ist.

Die Herausforderung bei der Bewältigung von Traumata liegt im Verstehen (verstanden werden, Selbstverstehen und gemeinsam verstehen); für Wilma Weiß die Basis der Traumapädagogik. Das Verstehen drückt die Anerkennung von Leid und Unrecht aus, auf die Menschen laut Weiß einen Anspruch haben, wenn sie traumatische Erfahrungen erleben mussten. Anerkennung ist auch in einer weiteren Hinsicht erforderlich: die Anerkennung der Lebensleistung, der Respekt vor dem, was die Kinder und Jugendlichen bei außerordentlich schwierigen Startbedingungen in ihrem kurzen Leben geleistet haben. Die Anerkennung ihrer Lebensleistung spielt demnach eine entscheidende Rolle für die Integration der Lebenserfahrung.

Wilma Weiß legt den Schwerpunkt auf die Bewältigungsprozesse der Kinder und Jugendlichen und zieht gleichzeitig Forschungsergebnisse heran, die die Lebensleistung heute erwachsener Betroffener von sexueller Gewalt in der Kindheit beschreiben. Deren Lebensgeschichten verdeutlichen die Bedeutung der traumapädagogischen Unterstützung in der Kindheit und Jugend. In diesen Verläufen zeigt sich, was passiert, wenn die Gewalt verleugnet und vertuscht wird, welche Belastungen nicht hätten eskalieren oder sich chronifizieren müssen, hätte jemand den Kindern zugehört, Verantwortung übernommen und emphatisch reagiert.

Die Pädagogik wird in die Verantwortung genommen und gezeigt, wie wichtig ihr Beitrag sein kann. Es darf laut Weiß nicht sein, dass diejenigen, die im Alltag mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten, die Traumafolgen an Therapie und Psychiatrie delegieren. Die Folgen werden im Alltag sichtbar und müssten dort bearbeitet werden. Die Brücke, von den herausfordernden Lebensumständen, die zu herausforderndem Verhalten der Kinder und Jugendlichen führen, zum gemeinsamen Verstehen und verstanden werden ist das Prinzip des ‘guten Grundes‘. Die Pathologisierung der Auswirkung herausfordernder Lebensumstände wird als nicht zulässig erklärt, weil sie den Betroffenen ihre Würde nimmt. Jedes noch zu ‚auffällige‘ oder destruktive Verhalten hat demnach einen guten Grund. Im Leben mit Gewalt und Vernachlässigung kann dieses Verhalten rettend sein, später kann es beeinträchtigen. Wilma Weiß vertritt die Auffassung, dass dieses Verhalten immer verstehbar und veränderbar ist, sobald es verstanden wurde.

Wilma Weiß´ gesellschaftskritischer Blick individualisiert Leid und Bewältigung nicht, auch wenn jedes einzelne Kind, auf das sie eingeht, als Individuum mit einer eigenen Geschichte ernst genommen wird. Aber die Geschichten werden kontextualisiert: Weiß fordert, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit erlauben muss, dass Traumata bewusst erforscht werden. Ihre kritische Haltung grenzt sich ab von einem beschönigenden oder vereinfachenden Verständnis von Resilienz oder posttraumatischem Wachstum. Es geht ihr nicht um Selbstoptimierung, sondern um die Integration kaum erträglicher Erlebnisse und deren Bearbeitung und Verdichtung zu Erfahrungen.

Nach Weiß‘ Ansichten ist Traumapädagogik notwendig, Selbstverstehen wichtig, Transparenz und Partizipation unverzichtbar. Die Pädagogik wird von ihr in die Verantwortung genommen und gleichzeitig aufgewertet in einem Konzept, das die Integration von therapeutischem Wissen in die Pädagogik und die Zusammenarbeit von Pädagogik und Therapie vorsieht. Es geht um Respekt, Transparenz und Zuverlässigkeit von Pädagog*innen im Alltag der Kinder- und Jugendhilfe.

Nachdenken über Erziehung mit Weiß

„PädagogInnen können Kinder (…) dabei unterstützen, selbstschädigende (Ritzen etc.) oder fremdschädigende (z.B. sexualisierte Gewalt) Verhaltensweisen aufzugeben, indem sie das Verständnis für das eigene Verhalten fördern und dann mit ihnen alternative Verhaltensmöglichkeiten erarbeiten.“

Wilma Weiß ist der Meinung, dass unerwünschte Verhaltensweisen durch das Verständnis für diese und mit Pädagog*innen gemeinsam erarbeitete alternative Verhaltensmöglichkeiten aufgegeben werden können. Was denken Sie, können solche ‚alternativen Verhaltensmöglichkeiten‘ sein? Was unterscheidet ‘geeignete Alternativen‘ von eher ungeeigneten alternativen Verhaltensmöglichkeiten?

„Pädagogische Kompetenz beinhaltet auch die Integration therapeutischer Methoden. Das traumatisierte Kind ist auch im pädagogischen Alltag ein traumatisiertes Kind. Die PädagogInnen brauchen das Wissen um die Ursachen und Auswirkungen von Traumatisierungen, sie brauchen auch therapeutisches Wissen. Das Kind braucht die innerhalb der Alltagspädagogik mögliche Unterstützung zur Heilung.“

Weiß geht es darum, dass Traumata nicht nur in Therapie und Psychiatrie bearbeitet werden sollten. Traumatische Erfahrungen manifestieren sich häufig im Alltag und werden dort sichtbar. Sie betont deutlich, dass ein traumatisiertes Kind auch die Möglichkeit zu einer ‚klassischen Therapieform‘ braucht, aber diese allein nicht zielführend ist. Stimmen Sie dem zu? Sind Sie auch der Meinung, dass die Bearbeitung von Traumata einen größeren Anteil im erzieherischen Alltag einnehmen sollte, oder sollte dies ausschließlich die Aufgabe von darauf spezialisierten Therapeut*innen sein?

„Die vielfältigen Möglichkeiten der Pädagogik bei der Bewältigung von Traumata können traumatisierten Mädchen und Jungen andere Perspektiven für eine gelingender Lebensbewältigung eröffnen. Dazu gehört vor allem die Unterstützung einer kognitiven Bewältigung der belastenden Erfahrungen als Selbstbefreiungsprozess. Eine, vielleicht die wesentliche Grundlage dieses Selbstbefreiungsprozesses ist die Sicherung kontinuierlicher Beziehungen.“

Wilma Weiß verlangt kontinuierliche Beziehungen als Grundlage bei der Bewältigung von Traumata. Nehmen Sie (im professionellen Kontext) sich als eine ‘kontinuierliche Beziehung‘ gegenüber den Adressat*innen wahr? Wie kann eine professionelle Beziehung gegenüber Adressat*innen förderlich gestaltet werden, wenn sie nur auf begrenzte Dauer angelegt ist?

„Wie helfen wir traumatisierten Kindern am besten? Indem wir Familie erhalten, möglichst schnell zurückführen? Müsste hier nicht noch ein Perspektivwechsel erfolgen, zumindest für die Kinder, die geschlagen, sexuell missbraucht, vernachlässigt, seelisch missbraucht werden und Gewalt des Vaters gegen die Mutter miterleben müssen? Nicht die Rückkehroption sollte im Vordergrund der Hilfen stehen, sondern die bestmögliche Bewältigung der beeinträchtigenden Erfahrungen…“

Wilma Weiß fordert die bestmögliche Bewältigung traumatischen Erfahrungen. Wenn diese in der Herkunftsfamilie nicht gegeben sind, sollte nach Weiß nicht die Rückkehroption in diese Familie im Vordergrund stehen, sondern das, was dem Kind am besten tut, um mit den Erfahrungen umzugehen. Als wie wichtig sehen Sie die Rückkehr in die Herkunftsfamilie? Ist diese immer mit allen Mitteln anzustreben, oder gibt es auch Situationen, in denen es Möglichkeiten der Bewältigung der beeinträchtigenden Erfahrungen gibt, die besser geeignet sind?   

Weiterführende Literatur

http://wilmaweiss.de

Weiß, Wilma, 2021: Philipp sucht sein Ich. Beltz Juventa

Weiß, Wilma / Kessler, Tanja / Gahleitner Birgitta 2016: Handbuch Traumapädagogik.Weinheim: Beltz. Beltz Handbuch.

Weiß, Wilma / Meloni, Noah /Söder, Teresa, 2019: „Hey, ich bin normal“ –. Vandenhoeck & Ruprecht.

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