Wilhelm Rotthaus

Wilhelm Rotthaus (geb. 1938), Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1983–2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen

Wichtige Ansätze

Wilhelm Rotthaus legt in seinem Buch „Wozu erziehen?“  eine neue, systemische Denkweise in Bezug auf Kinder und deren Erziehung vor. Er findet, dass eine herkömmliche Erziehung auf dem Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, unfertigen und fertigen Menschen, Noch-nicht-Erzogenen und Erzogenen, Unwissenden und Wissenden basiert. Dieser Unterschied macht das Kind zum Objekt der Bemühungen der Erwachsenen, mit dem Ziel, es ‘zum Menschen‘ zu erziehen. Eine solche Art Erziehung verliert jedoch in der modernen Gesellschaft so langsam den Boden unter den Füßen, da die Sicherheit und Eindeutigkeit des Unterschieds zwischen Kindern und Erwachsenen immer mehr schwindet – man denke nur an den selbständigen Umgang der Kinder mit den neuen Medien.

Erziehung sollte stattdessen als interaktiver Prozess betrachtet werden, in dem die zu Erziehenden und die Erzieher*innen sich gegenseitig beeinflussen. Als Beispiel könnte man sogar schon den Einfluss des Säuglings auf das Verhalten und die Einstellung der Eltern nehmen. Erziehung ist für Rotthaus ein Prozess der Koevolution, der gemeinsamen Entwicklung, bei dem Lernen auf beiden Seiten stattfindet. Die Erzieher*innen steuern nicht die Lernprozesse des Kindes, sondern ermöglichen und erleichtern diese bestenfalls. Ein gelungener Erziehungsprozess zeichnet sich dadurch aus, dass beide Beteiligten davon profitieren und dadurch beide eine individuelle Entwicklung und persönliches Wachstum erfahren.

Dabei leugnet Rotthaus den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen keinesfalls. Er versteht Kinder zugleich als Seiende und als Werdende. Als Seiende sind sie jederzeit schon voll umfänglich ernst zu nehmen, aber als Werdende sind sie zugleich noch auf Unterstützung angewiesen. Da Rotthaus als systemischer Denker davon ausgeht, dass das Verhalten eines Kindes in erster Linie nicht von außen bestimmt werden kann, sondern vor allem aus seiner inneren Struktur und dem inneren Prozessieren hervorgeht, müssen Erziehende davon ausgehen, dass ihre erzieherischen Einflussmöglichkeiten gering sind und insbesondere ihre moralischen Anliegen wenig bedeutsam sind.

Erziehung bedeutet für Rotthaus, Anregungen zur Selbstsozialisation bzw. Selbsterziehung des Kindes zu geben. Einflussnahmen der Erwachsenen müssen „anschlussfähig an das innere Operieren“ des letztlich unabhängigen und in seinem Selbstverständnis immer sinnvoll handelnden Kindes sein. Da Erwachsene und insbesondere Fachkräfte zu viele Gespräche über Defizite und Fehlverhalten der Kinder führten, entstehe ein negatives Erziehungsklima, das die Probleme dadurch vergrößere, dass es sie unter die Lupe nehme. Stattdessen empfiehlt Rotthaus ressourcen- und lösungsorientierte Gespräche mit Kindern zu führen.

Die Erziehenden können einen erfolgreichen Erziehungsprozess nach Einschätzung von Rotthaus daran erkennen, dass sie drei Fragen an sich selbst beantworten:

  • Was hat das Kind mir beigebracht?
  • Wie habe ich in dieser Erziehungspartnerschaft profitiert?
  • Was habe ich gelernt beim Erziehen dieses Kindes?

Wenn die Antworten positiv sind, dürfte das Kind auch eine positive Entwicklung erfahren haben und wenn sie negativ sind, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Kind kaum davon profitiert haben.

Nachdenken über Erziehung mit Rotthaus

„Weniges erscheint so selbstverständlich wie die Tatsache, daß Erziehung von Kindern ein elementarer Grundbaustein gesellschaftlichen Lebens ist, dass Kinder angeleitet, geführt, gelenkt, gefordert, eingegrenzt und geformt, eben zu einem sozialen Menschen erzogen werden müssen.“

Wilhelm Rotthaus möchte damit betonen, dass nur wenige Erwachsene die Idee der Erziehung hinterfragen. Vielmehr sind sie überzeugt, dass es schon Erziehung gegeben hat, solange die Menschheit besteht. Die Frage, ob Erziehung überhaupt heute noch notwendig sei, wird kaum ernst genommen und nur belächelt, als wäre es etwas Selbstverständliches.

„Es sollte sich deshalb lohnen, der Frage, ob denn Erziehung überhaupt notwendig und sinnvoll sei, etwas ernsthafter nachzugehen, auch wenn sie auf Anhieb eher lächerlich zu sein scheint.“

Die Kinderrechtsbewegung und die antiautoritäre Pädagogik verneinten diese Frage und forderten in den frühen 1970er Jahren die Befreiung der Kinder von den Fesseln der Erziehung. Auch die Anti-Pädagogen beantworteten die Frage mit nein. Sie forderten die Freimachung von der Erziehungsverantwortung.

„Wer heute über das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen nachdenkt, muss zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, daß unsere traditionelle Vorstellung von Kindheit nicht – wie Rousseau glaubte – ein naturgegebenes Phänomen ist, sondern eine soziale Konstruktion darstellt.“

Wilhelm Rotthaus sagt, dass es nicht immer schon die heutige Kinder-Erwachsenen-Beziehung gegeben hat, weshalb es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass es immer so weiter gehen müsste. Die Ideengeschichte der Kindheit legt nahe, dass richtige Erziehung das richtige Kind produziert und wenn das Kind nicht richtig werde, handele es sich um einen Produktionsunfall.

Weiterführende Literatur

Die eigene Website von Wilhelm Rotthaus:
https://www.wilhelm-rotthaus.de/

Wilhelm Rotthaus: Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung. Carl-Auer Verlag 2000

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