Rassismuskritische Erziehung

1. Beschreibung der Herausforderung

Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus sind auch heute zentrale Themen für die (deutsche) Gesellschaft. Dass Rassismus gegenwärtig Realität ist, wurde spätestens nach den Anschlägen von Hanau und Halle 2020 sowie durch die internationalen „Black-Lives-Matter“-Proteste der breiten Bevölkerung bewusst. Das öffentliche und politische Interesse erfährt derzeit einen Wendepunkt in den Diskussionen um Rassismus und zeichnet einen deutlicheren Wunsch nach Aufklärung und rassismuskritischer Bildung ab.

Was bedeutet das für die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe? Rassismus ist ein tief verwurzeltes soziales Konstrukt, welches auf strukturellen, gesellschaftspolitischen und institutionellen Ebenen beobachtbar ist. Die Bereitschaft über Rassismus zu sprechen sowie das Bewusstsein zur Aufarbeitung rassistischer Vorfälle wächst, was dazu führt, dass strukturell und institutionell stattfindender Rassismus vermehrt aufgedeckt und diskutiert wird. Da stellt sich die Frage, ob Werbeslogans, wie „Schule ohne Rassismus“, überhaupt sinnig bzw. wahrheitsgemäß sind und Einrichtungen der Jugendhilfe sich daran orientieren sollten. Denn nur weil Rassismus in einer Institution nicht toleriert wird, heißt das nicht, dass nicht darüber geredet und aufgeklärt werden sollte. Rassismus ist in unserer Gesellschaft so tief verankert, dass wir nicht in der Lage sind, ihn einfach aufzulösen. Von eigenen Privilegien, Denkmustern und Vorurteilen kann sich kaum ein Mensch lossagen, da wir mit ihnen aufwachsen, sie in Folge von Sozialisationsprozessen durch die Gesellschaft aufnehmen und sie damit unser Denken automatisch beeinflussen und uns häufig blind machen für ein kritisches Hinterfragen dieser Denkmuster. Aber führen Vorurteile automatisch zu Rassismus?

Von Vorurteilen sprechen wir, wenn wir uns ein Urteil über eine Person oder einen Sachverhalt bilden, ohne wirkliches Wissen über diese Person oder den Sachverhalt zu haben. Damit verbunden sind bereits voreingenommene positive oder negative Wertungen. Gefährlich werden Vorurteile dann, wenn sie zur Diskriminierung anderer Menschen führen. Die Einteilung von Menschen in unterschiedliche Gruppen und damit verbundene Benachteiligungen bezeichnet man als „Diskriminierung“. Geschieht dies systematisch und über einen längeren Zeitraum, verbunden mit „Rasse-Konstruktionen“, sprechen wir von Rassismus. Menschen werden mittels nationaler, religiöser, kultureller und rassistischer Unterscheidung in unterschiedlichen Gruppen systematisch abgewertet und diskriminiert, während die andere Gruppe aufgewertet wird. Rassismus stellt dabei ein ausschließlich soziales Konstrukt dar, denn es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für die Aufteilung der Menschen in biologische „Rassen“. Natürlich bestehen physiologische und phänotypische Merkmale und Unterschiede (wie z.B. Hautfarbe, Körpergröße etc.), jedoch definieren diese keine unterschiedlichen „Rassen“. Die genetischen Unterschiede in als genetisch gleich definierten Gruppen sind genauso groß wie in als genetisch unterschiedlich definierten Gruppen. „Rassen“ existieren folglich nicht, werden aber durch die Gesellschaft konstruiert und reproduziert. So zeigen Vorstellungen der (bewusst oder unabsichtlich) benachteiligend handelnden Person, für die „Deutsch sein“ vorwiegend mit Eigenschaften in Bezug auf Körperform und Hautpigmentierung verbunden sind, „Rasse-Konstruktionen“ und damit rassistisches Denken auf. Rassismus stellt eine Ideologie und soziale Praxis dar, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Es entsteht ein Klassifizierungssystem, das dazu dient, soziale, politische und ökonomische Herrschaftssysteme zu begründen, die bestimmten Gruppen den Zugang zu Ressourcen verwehren. Rassismus ist folglich ein tief verwurzeltes, historisches Phänomen und diente von Beginn an zur Machtsicherung bestimmter Nationen (siehe z.B. Prozess der Kolonialisierung).

Bei vielen Menschen führen Vorurteile zu bestimmten Denkmustern, die zu unreflektierten und bestimmte Personengruppen ausgrenzenden Handlungen führen und damit gesellschaftlich verankerten Rassismus fördern. Fachkräfte der Sozialen Arbeit müssen sich der Frage und Herausforderung stellen, wie diskriminierenden und rassistischen Denkstrukturen in einem sozialpädagogischen und rassismuskritischen Kontext begegnet werden kann. Die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sollten daher im Rahmen einer rassismuskritischen Erziehung mit den Kindern und Jugendlichen daran arbeiten, dass veraltete Denkmuster und Strukturen aufgedeckt und aufgebrochen werden und Sorge dafür tragen, dass junge Generationen heranwachsen, die darin gebildet sind, Vorurteilen und Stereotypen diskriminierungskritisch zu begegnen und die eigenen Handlungen so zu reflektieren, dass sie diskriminierende und rassistische Handlungen und Strukturen abbauen statt fördern.

2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken

Um zu wissen, wie wir mit anderen Menschen umgehen müssen und was er:sie an Hilfe braucht, werden manchmal (augenscheinlich) nur die Adresse im Brennpunkt, das Aussehen, die Aussprache oder Hinweise auf einen Migrationshintergrund benötigt. Solche zuschreibend-kulturalisierenden Praktiken können auch in der Sozialen Arbeit stattfinden. Um diesen Praktiken begegnen zu können, müssen die Fachkräfte ihre eigenen Vorurteile und Denkmuster zunächst anerkennen und reflektieren. Ein zentraler Begriff stellt dabei das Kulturverständnis von Fachkräften dar. Es wird dabei zwischen drei verschiedenen Verständnissen von „Kultur“ unterschieden:

  1. Essentialistisches, biologistisches, ahistorisches, statisches Kulturverständnis

Das Verständnis führt zu dem Denken, dass jede Person in nur einem Land mit jeweils nur einer und über die Zeit nicht veränderbaren Kultur lebt und sich zwanghaft nach den kulturellen Vorstellungen des Landes, der Nation, des „Kulturkreises“ bzw. der Ethnie entsprechend richtet. Die Menschen werden nicht als handlungs-, entscheidungs- oder verantwortungs- und reflexionsfähige Personen angesehen. Sie werden als Marionetten ihres „kulturellen Wesens“ betrachtet und ihnen wird eine kulturelle Individualität abgesprochen.

  1. Individualistisch-autonomes Kulturverständnis

Dieses Verständnis schreibt im Zuge der europäischen Aufklärung einerseits den als „weiß“, europäisch, christlich sowie als „zivilisiert“, mündig und aufgeklärt definierten Personen Denk-, Handlungs-, und Regierungsfähigkeiten zu, während es andererseits durch diskriminierende Rechtsordnungen sowie ideologische Abwertungen die Gruppen der Anderen (innerlich wie äußerlich) entrechtet, abwertet und diskriminiert.

  1. Kultur als Handlungspraxen von Einzelpersonen

Bei diesem Verständnis wird anerkannt, dass Einzelpersonen sich einzelnen oder mehreren Gruppen, Ländern und Kontexten zugehörig fühlen können und situativ in bestehenden Machtverhältnissen Entscheidungen treffen.

Empirische Studien zeigen, dass Pädagog:innen tendenziell eher kulturalisierende Zuschreibungen gegenüber als „Migrant:innen“ angesehenen Personen anwenden (statisches Kulturverständnis), während gegenüber Personen ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund eher das autonome Kulturverständnis angewendet wird. Das zuletzt beschriebene Kulturverständnis, welches auf Aushandlung und Selbstermächtigung abzielt, wird hingegen selten realisiert.

Dies zeigt, dass es für eine rassismuskritische Erziehung zunächst wichtig ist, sich mit dem eigenen Kulturverständnis auseinanderzusetzen. Denn bereits hier beginnen Zuschreibungsprozesse und die Verfestigung von diskriminierenden Denkstrukturen. Wir müssen unsere eigenen Vorurteile und Zuschreibungen stets reflektieren, um diese korrigieren zu können und sie damit nicht unbewusst an junge Menschen weiterzugeben. Rassismus ist nicht an ein ausländerfeindliches oder rechtes Denken geknüpft. Rassismus findet ebenso unbewusst statt und unbedachte Äußerungen können bereits Rassismus reproduzieren. Rassistische Äußerungen finden beispielsweise bereits statt, wenn das „schwarze“ Mädchen in der Tages-/Wohngruppe nicht die Elsa spielen darf, weil Elsa und generell Prinzessinnen eben „weiß“ sind. Eine rassismuskritische Erziehung lebt nicht nur Toleranz, sondern bildet Kinder und Jugendliche aktiv darin, nicht rassistisch zu sein. Dafür ist es wichtig, dass normative (Rollen-)Bilder aufgebrochen werden und rassismuskritische Themen bereits in der frühkindlichen Bildung, z.B. über entsprechende Kinderbücher oder Hörspiele, aufgegriffen werden. Die Erwachsenen (Fachkräfte wie Eltern) müssen sich selbst in ihrer Vorbildfunktion bewusst wahrnehmen und für die Äußerungen der Kinder sensibel sein, um situativ und reflexiv mit dem Kind ins Gespräch darüber gehen zu können. Kinder erhalten dadurch die Chance, mit einem natürlichen Verständnis aufzuwachsen, dass die Welt bunt ist und die Hautfarbe kein Unterscheidungsmerkmal darstellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für eine rassismuskritische Erziehung zunächst unerlässlich ist, über die eigenen Denk- und Handlungsmuster nachzudenken. Dadurch kann das eigene von Zuschreibungsprozessen definierte Denken und Handeln der Fachkräfte reflektiert und unbewusste Diskriminierungskontexte abgebaut werden (z.B. in der Arbeit mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen). In konkreten Bildungs- und Betreuungsverhältnissen, wie z.B. Kindertagesstätten, Tagesgruppen oder Wohngruppen stellt sich die Herausforderung, Kinder und Jugendliche nicht vorwiegend als Angehörige von (kulturellen, nationalen, religiösen) Gruppen zu sehen, sondern ihnen zu ermöglichen, ihre eigenen Deutungen von (Mehrfach-) Zugehörigkeiten sowie Diskriminierungs- und Entfaltungserfahrungen ansprechen und diskutieren zu können. Im Rahmen von Aufklärungs- und Bildungsarbeit sollten Fachkräfte zudem mit den Kindern und Jugendlichen daran arbeiten, die Reproduktion von bewusstem und unbewusstem Rassismus im Alltag abzubauen.

Durch eine rassismuskritische Erziehung kann mit den Kindern und Jugendlichen ein offener Umgang mit Zuschreibungen und Vorurteilen stattfinden, der es ihnen ermöglicht, über eigene Denk- und Handlungsprozesse ins Nachdenken zu kommen und diese kritisch zu betrachten. Fachkräfte müssen dafür Räume initiieren, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, über eigene Erfahrungen zu sprechen und sich auszutauschen, um diskriminierende Handlungen kritisch zu reflektieren und diese als eben solche auch zu erkennen. Dies bildet einen ersten und wichtigen Schritt, um gesellschaftlich verankertem Rassismus konstruktiv zu begegnen. Folglich erscheint der Werbeslogan „Wohngruppen mit Rassismus“ vielleicht passender. Denn zum einen spiegelt seine provokative Aussage im Kern die gesellschaftlich-strukturelle Realität wider und könnte zum anderen dem Auftrag an eine rassismuskritische Erziehung vermutlich besser nachkommen, als das oben genannte Beispiel.

Über den Auftrag an eine rassismuskritsiche Erziehung hinaus leitet sich ein diskriminierungs- und rassismuskritischer Handlungsauftrag für die Soziale Arbeit ab, wenn wir die Soziale Arbeit nach Silvia Staub-Bernasconi als Menschenrechtsprofession ansehen. Daraus ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen für eine rassismuskritische Soziale Arbeit:

  1. Reflexion der Praxiseinrichtung, welchen (zugeschriebenen) gesellschaftlichen Gruppen die Mitarbeitenden angehören und ob die migrationsgesellschaftliche Vielfalt des Einzugsgebietes in der Zusammensetzung des Personals widergespiegelt wird und wie dies ggf. geändert werden kann.
  2. Initiierung von Trägerlandschaften, die die Interkulturalität der Gesellschaft widerspiegeln (z.B. muslimische Träger).
  3. Reflexion und Analysen darüber, welche Adressat:innen (nicht) in die Einrichtung/Institution kommen und ob Adressat:innengruppen eine unterschiedlich gute Begleitung und Unterstützung erfahren.
  4. Qualifizierung des Personals in Hinblick auf Wissen über Diskriminierung, Aufenthalts- und Asylrecht, Rassismus sowie interventionsbezogene Handlungsfähigkeiten.
  5. Kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden Theorien und Praxen der Sozialen Arbeit dahingehend, ob diese benachteiligende Unterscheidungen von gesellschaftlichen Gruppen eher fördern oder kritisieren.

3. Fragen zum Weiterdenken

  • Welche Kontexte könnten sich im Alltag einer Wohngruppe/Tagesgruppe ergeben, um rassismuskritisch intervenieren zu können? Sollten Fachkräfte Kontexte auch ggf. bewusst initiieren? Wenn ja, was braucht es dafür (z.B. in Bezug auf Gestaltung, Raum etc.)?
  • Einrichtungen betonen immer wieder, dass es in ihrer Einrichtung keinen Rassismus gibt. Wie würden Sie eine Situation beurteilen, in der Jugendliche sich spielerisch untereinander aufziehen und zu einem ausländischen Kind „Terrorist“ sagen. Das ausländische Kind lacht und nennt seinen Kumpel „du Nazi“. Würden Sie hier intervenieren? Wenn ja, warum und wie?
  • Welche Strukturen und Handlungen in Einrichtungen der Jugendhilfe halten Diskriminierungs- und Rassismusprozesse aufrecht? Wie könnten Fachkräfte diesen entgegenwirken?

4. Material / Links

Für weitere Anregungen zu Anwendungsbeispielen für eine rassismuskritische Erziehung:

BundesInnungskrankenkasse Gesundheit (o.J.): 6 Tipps für eine antirassistische Erziehung. Online verfügbar unter: https://www.big-direkt.de/de/gesund-leben/familie-kinder/6-tipps-fuer-eine-antirassistische-erziehung [29.06.2023].

IDA-NRW (Hg.) (2016): Kinder- und Jugendarbeit zu rassismuskritischen Orten entwickeln. Anregungen für die pädagogische Praxis in der Migrationsgesellschaft. Online verfügbar unter: https://www.ida-nrw.de/fileadmin/user_upload/reader/Broschuere_Kinder-uJugendarbeit.pdf [29.06.2023].

Merschen, Jutta (2021): Antirassistische Erziehung. Wie wir zu einer toleranten, friedlichen Gesellschaft beitragen können. Online verfügbar unter: https://www.familypunk.com/antirassistische-erziehung/ [29.06.2023].

Zum Reinhören (Podcast):

Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus (2022): „Haltung zeigen“ – Der Podcast. Online verfügbar unter: https://stiftung-gegen-rassismus.de/iwgr2022/haltung-zeigen-der-podcast [29.06.2023].

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