Rassismuserfahrungen bei Jugendlichen
– Handlungsherausforderungen und mögliche Umgangsweisen
1. Beschreibung der Herausforderung
Das Aufwachsen und Leben in Gesellschaften wie Deutschland ist von der Auseinandersetzung mit vielfältigen Ausgrenzungserfahrungen geprägt. Menschen werden aufgrund zugeschriebener Merkmale beleidigt, bedroht, sogar getötet. Rassistische Erfahrungen sind elementare Bestandteile des Alltags von rassifizierten Menschen in Deutschland und fester Bestandteil gesellschaftlicher Realität.
Rassismus ist gesellschaftlich verankert, strukturiert alltägliche soziale Praktiken und bedeutet für viele Personen die Erfahrung rassistischer Stereotypisierung, Ausgrenzung und Benachteiligung. Bei Rassismus handelt es sich um ein hochkomplexes, individualisierbares Ausnahmephänomen mit einer weitreichenden Historie. Es gibt verschiedene Perspektiven, um Rassismus zu definieren. Im Folgenden wird Rassismus als eine soziale Praxis bezeichnet, die eine Gesellschaft nach Merkmalsausprägungen unterteilt. Rassismus wird als konstitutive Unterscheidung zwischen einem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ verstanden.
Demnach werden soziale Gruppen produziert und hierarchisiert. Durch die Stereotypisierung des ‚Anderen‘ wirkt die eigene Gemeinschaft wie eine homogene Gruppe, in welche die ‚Anderen‘ nicht hineinpassen. Die Konstruktion von sozialen Gruppen hat zum Ziel und/oder als Effekt, dass eine eigene Gruppenidentität durch Abgrenzung von ‚Anderen‘ geschaffen wird, sodass Aggressionen, Ausschlüsse und Privilegien damit legitimiert werden. Dieser Prozess, der Menschen zu ‚Anderen‘ macht, wird mit dem Begriff „Othering“ beschrieben. Diese Menschen werden als potenziell nicht zugehörig markiert und es kommt zu einer Produktion von Unterschieden.
Diese gemachten Unterschiede wirken sich für Menschen auf Zugänge zu materiellen wie symbolischen Ressourcen auf allen relevanten gesellschaftlichen Ebenen aus. Die permanente Sichtbarmachung als ‚Andere(r)‘ trägt dazu bei, sich auch selbst als ‚Andere(r)‘ wahrzunehmen.
Rassismus manifestiert sich in den Lebenswelten von Jugendlichen, die als ‚Andere‘ kategorisiert werden, in vielfältiger, häufig subtiler Weise. Rassismuserfahrungen zu machen heißt, Rassismus durch das Verhalten der Gesellschaft an sich selbst (und anderen) zu erleben. Rassismuserfahrungen sind Konsequenz von Praktiken der Unterscheidung und Differenzkonstruktionen, die zwischen einem nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ trennen und mit der Tendenz einhergehen, jene, die als ‚Andere‘ markiert werden, zu degradieren, herabzuwürdigen, zu beschämen und anzugreifen.
Ausgangspunkt der Erfahrungen mit Rassismen und ihren Zusammenhangsrahmen bildet meist die Erfahrung von konkreten Personen als vermeintlich ‚anders‘ identifiziert und so in der Zugehörigkeit hinterfragt zu werden. Die Grenzziehung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, zwischen ‚Anderen‘ und ‚Nicht-Anderen‘, die immer wieder in erlebten Interaktionen hergestellt wird, ist elementarer Teil von Rassismuserfahrungen.
Wie alle anderen rassifizierten Menschen, sind auch junge Menschen Rassismus auf struktureller, institutioneller und individueller Ebene ausgesetzt. Die Perspektiven und Erfahrungen junger rassifizierter Menschen sind deshalb relevant, weil diese Erfahrungen im Zuge der Sozialisation auf dem Weg in das Erwachsensein einen großen Einfluss auf das Selbstbild und das Etablieren von Bewältigungsstrategien haben können.
Rassismuserfahrungen bei Jugendlichen sind vom subjektiven Erleben einer sozialen Wirklichkeit bedingt und oftmals Effekt von als selbstverständlich geltenden Bedeutungskonstruktionen. Rassismuserfahrungen sind ein Resultat der Konfrontation mit „Othering-Prozessen“ und (re-)produzieren rassistisches Wissen. Jugendliche interpretieren, erleben und bewältigen ihre Erfahrungen unterschiedlich. Das Erleben ist somit nicht verallgemeinbar. Rassismus, Fremdzuschreibungen und Zuweisungen von Positionen sind für Jugendliche Teil des Alltags und wirken auf ihr Selbst- und Weltverständnis.
Da sich solche Prozesse durch die gesamte Gesellschaft ziehen, machen alle Mitglieder der Gesellschaft Erfahrungen mit Rassismus, jedoch in sehr ungleicher Abhängigkeit von der sozialen Positionierung. Erfahrungen mit Rassismus sind in bedeutsamer Weise von Zugehörigkeitsordnungen strukturiert. Dies führt dazu, dass diese Erfahrungen meist nicht als mit rassistischen Verhältnissen in Zusammenhang stehend erlebt werden, da sie diese als unhinterfragte Zugehörigkeit und in Form von Selbstverständlichkeiten und Normalitäten erleben, die keinen Anlass für Irritationen geben. Weitere Erfahrungen können sich in Form von Nicht-Zugehörigkeitserfahrungen, Zuschreibungen, Herabwürdigungen und Ausgrenzung auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen von Lebenswelten zeigen und manifestieren sich als Handlungsherausforderungen. Junge Menschen sind gezwungen, sich mit diesen Erfahrungen und dem damit verbundenen Rassismus auseinanderzusetzen.
Alltägliche Erfahrungen von Differenzen lassen sich als kollektive Rassismuserfahrungen, medialer Rassismus, subtiler Rassismus, institutioneller Rassismus und antizipierter Rassismus zusammenfassen.
Beispiele dafür sind:
- Die Erfahrung, dass Menschen, nur weil sie eine bestimmte Herkunft haben, zu Opfern werden
- In der Öffentlichkeit wird auf rassistische Bilder zurückgegriffen
- Erfahrungen von Ignoranz und Gleichgültigkeit
- Blicke und Getuschel
- Herabwürdigung und Beschimpfung
- Absprechen von Deutschsein und symbolische Ausweisung
- Exotisierung
- Konfrontation mit rassistischem Wissen im Alltag
- Diskriminierung in der Freizeit
- Körperliche Gewalt und Anschläge
- Hinterfragen oder Verweigerung von Zugehörigkeit
- Kategorisierung, Zuschreibung und Verweisungen
2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken
Durch das alltägliche Zusammenleben wachsen Jugendliche in eine Gesellschaft hinein. Sie wachsen hinein in ein Netzwerk aus Beziehungen und Machtverhältnissen. Immer wieder werden sie auf der Suche nach ‚ihrem Platz‘ an Hürden und Grenzen stoßen. Sie spüren, wie die Machtverhältnisse in der Gesellschaft ihre Möglichkeiten einschränken oder sie verletzen; je nach ihrer Identität und Fremdzuschreibungen mehr oder weniger stark.
Gleichzeitig finden diese Erfahrungen in der pädagogischen Praxis wenig Aufmerksamkeit. Die Alltäglichkeit der durch die Normalität des Rassismus erzeugten, prekären Zugehörigkeiten bleibt unsichtbar und unaussprechbar. Wichtig ist, wenn bestimmte Machtverhältnisse nicht direkt geändert werden können, den Jugendlichen deutlich zu machen: Die Einschränkungen liegen nicht an ihnen, sondern an dieser Gesellschaft. Nicht das Geschlecht oder die vermeintliche Herkunft bestimmt, was sie erreichen können, sondern wie die Gesellschaft sie aufgrund ihrer Identität behandelt. Es müssen Perspektiven geöffnet werden, sich in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft größere Freiheiten zu schaffen.
Rassismus wird oft ‚am rechten Rand‘ der Gesellschaft oder in der Geschichte verortet, möglichst weit weg von der eigenen Person. Damit bleibt er im Kern unverstanden. Unsicherheiten, Historie und das Herunterspielen von Situationen bedingen den Umgang mit Rassismuserfahrungen. Die alltägliche Banalität wird nicht begriffen und Erfahrungen bleiben unbesprochen. Dies kann dazuführen, dass Jugendliche mit ihren Erfahrungen allein gelassen werden. Ein weiterer Faktor ist, dass viele Pädagog*innnen keine eigenen Rassismuserfahrungen gemacht haben und es ihnen daher schwer fällt, die ihnen anvertrauten Jugendlichen (richtig) zu verstehen. Es besteht die Gefahr von Bagatellisierung, Individualisierung oder Pathologisierung. Fachkräfte ignorieren an dieser Stelle einen wichtigen Teil biografischer und lebensweltlicher Erfahrungen.
Auch auf Seiten der Jugendlichen besteht die Gefahr, ihre Erfahrungen nicht zur Sprache bringen zu können, aus Angst die Opferrolle einnehmen zu müssen. Oftmals entwickeln sie daher einen ironischen Umgang mit ihrer (Lebens-)Situation. Das Wissen der Jugendlichen erweist sich vielfach als ungenügend, um ihre Erfahrungen einordnen und verstehen zu können. Es entsteht eine Lücke zwischen Erfahrungen mit Rassismus und Wissen über Rassismus.
Rassismuserfahrungen müssen daher als soziale Wirklichkeiten erkannt, thematisiert und ernst genommen werden. Settings, in denen Zuschreibungen ‚normalisiert‘, legitimiert und als selbstverständlich gelten, müssen aufgelöst werden.
Aus pädagogischer Sicht müssen Jugendliche unterstützt werden, ihre eigenen Identitäten zu bilden und sich im Leben (selbständig) zurechtzufinden. Sie benötigen einen sicheren Rahmen, in dem sie sich selbst ausprobieren und finden können. In dem sie schauen können, wer sie sind, wer die ‚Anderen‘ sind und wie sie zueinanderstehen wollen. Dabei sollten sie möglichst uneingeschränkt von Fremdzuschreibungen sein. Es sollte nicht von vornherein feststehen, wie sie zu sein haben, nur weil sie vermeintlich ein bestimmtes Identitätsmerkmal haben. Betroffenen von Diskriminierung kann zudem der Erfahrungsaustausch mit anderen und ein selbstbestimmter Raum, in dem die gesellschaftlichen Machtverhältnisse einmal weniger gelten, helfen.
Da Rassismuserfahrungen oft zu Verunsicherung und Gefühlen von ‚Alleinsein‘ führen, kann der Austausch über eigene Erfahrungen in geschützten Räumen und das Kennenlernen von verschiedenen Betroffenenperspektiven hilfreich sein. Nur so wird die Pädagogik auch ihrem eigenen fachlichen Anspruch gerecht, mit einer subjekt-, biografie- und lebensweltorientierten Perspektive Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu begleiten und zu stärken. Den Jugendlichen muss ein Zugang zu antirassistischer Bildung in unterschiedlichen Formen möglich sein. Für ein gewaltfreies Miteinander sollen sie ermutigt werden, Verantwortung zu übernehmen.
Rassismus ist ein in der Gesellschaft verankertes System, welches von der Sozialen Arbeit nur bedingt verhindert werden kann. Pädagog*innen (allein) ist es nicht möglich, Rassismus und andere gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ‚abzuschaffen‘. Es geht vielmehr darum, die Reproduktion solcher Herrschaftsverhältnisse so weit wie möglich einzudämmen und diesen entgegenzuwirken. In der pädagogischen Praxis geht es vor allem darum, sich auf den Prozess einer kritischen Selbstreflexion einzulassen sowie Irritation und das Hinterfragen eigener Bilder und Vorstellungen zuzlassen. Handlungsmöglichkeiten in der Sozialen Arbeit sind das Nutzen von Spielräumen, Einfluss auf Diskurse nehmen, Transparenz schaffen, Erhöhung des Personalschlüssels, Öffnung des Teams für Rassismusbetroffene, Empowerment, Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft und politisches Bewusstsein des Trägers und der Mitarbeiter*innen.
Dies erfordert pädagogische Konzepte, die reflektieren, wie die eigene Institution und damit auch der eigene professionelle Auftrag in rassistische Verhältnisse eingebunden sind. Sensibilisierung, Qualifizierungen und Vielfaltgestaltung sind zentrale Aspekte. Die Gesellschaft prägt uns, bis in unser alltägliches Zusammenleben hinein. Aber darin, wie wir zusammenleben, welche Erfahrungen und Freiheiten wir als Pädagog*innen ermöglichen, prägen wir die Gesellschaft. Eine Aufmerksamkeit für die Normalität von Rassismus zu schaffen sowie Umgangsweisen mit Rassismus(-erfahrungen) und deren Herausforderungen zu etablieren, die den eingebundenen Jugendlichen gerecht werden, sind dringend notwendig.
Aufgabe als Eltern und Fachkräfte der (teil-)stationären Jugendhilfe ist es, Kinder und Jugendliche aufzuklären. Kinder und Jugendliche, die Ausgrenzung erleben, brauchen Empowerment von pädagogischen Fachkräften ebenso wie von Eltern, damit sie nicht glauben, weniger wert zu sein. Es benötigt einen Umgang, der Vielfalt auf menschlicher Ebene mit Wertschätzung begegnet. Wichtig ist es, Empathie zu fördern, Unsicherheiten auf sachliche Weise zu klären und gezielt Impulse für Vielfalt im Alltag der Kinder und Jugendlichen zu setzen. Dabei ist das Ziel zu vermitteln, dass Vielfalt normal ist. Unterschiedlichkeit verdient Wertschätzung anstatt Ablehnung.
Ebenfalls braucht es viele Gespräche und vorbildliches Verhalten. Vorurteile bilden sich auch dann geringer aus, wenn Kinder und Jugendliche vielfältige soziale Kontakte haben. Eltern müssen den Kontakt zu Kindern anderer Herkunft, Religion oder sozialem Status zulassen und daraus entstehenden Freundschaften offen gegenüberstehen.
Kinder und Jugendliche brauchen unmissverständliche Rückmeldung von Erwachsenen und die klare Abgrenzung von rassistischen Äußerungen. Wichtig ist es eine klare Haltung auszudrücken und sachlich zu erklären, dass es z.B. viele verschiedene Hautfarben, Herkünfte, Sprachen und Religionen gibt. Keine sind unterlegen oder weniger zivilisiert. Hierbei ist Hintergrundwissen der pädagogischen Fachkräfte gefordert, damit Ansichten begründet werden können.
3. Fragen zum Weiterdenken
- Wie sehen unsere eigenen Denkmuster aus? Sind wir uns unserer Denkmuster bewusst?
- Wie kann das Vermitteln von Vielfalt gelingen/ gestaltet werden? Wie ermöglichen wir vielfältige Kontakte?
- Wie kann es uns als Fachkräften gelingen, uns von rassistischen Kommentaren abzugrenzen?
- Wie kann es uns gelingen, Menschen, die rassistische Denkmuster vertreten, angemessen zu begegnen?
- Wie reagieren wir als Fachkräfte, wenn uns rassistische Kommentare/Situationen auffallen?
- Reicht es, Kinder und Jugendliche in einem multikulturellen Umfeld aufwachsen zu lassen oder sollte Rassismus immer bewusst von den Eltern/ pädagogischen Fachkräften angesprochen werden?
- Wann sollte man laut werden, wann sollte man sich einmischen und wie?
4. Material / Links
Fereidooni, Karim / El, Meral (2017): Rassismuskritk und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer Verlag.
Madubuko, Nkechi (2021): Praxishandbuch Empowerment. Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen begegnen. Weinheim und München: Beltz Juventa Verlag.
Melter, Claus / Mecheril, Paul (2011): Rassismuskritik. Rassismustheorie und -forschung. 2. Aufl. Frankfur/M: Wochenschau Verlag.
Scharathow, Wiebke (2014): Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld: transcript Verlag.
Website:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. ‚Rassistische Realitäten‘ in Deutschland. URL: https://www.demokratie-leben.de/magazin/magazin-details/rassistische-realitaeten-in-deutschland-131 [12.06.2023]
Weitere interessante Podcasts / Bücher zum Thema: BR Podcast (2022):
Radioreportage. Rassismus entlernen – Wie man Kinder zu Vielfalt erzieht URL:https://www.br.de/mediathek/podcast/radioreportage/rassismus-entlernen-wie-man-kinder-zu-vielfalt-erzieht/1853049 [15.07.23]
BR Podcast (2020): Nachtstudio. Ihr seid nicht wir – Was ist eigentlich „Othering“? URL: https://www.br.de/mediathek/podcast/nachtstudio/ihr-seid-nicht-wir-was-ist-eigentlich-othering/1798410 [15.07.23]
El-Mafaalani, Aladin (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
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