Psychosoziale Entwicklung nach Erikson

Erik Homburger Erikson (1902-1994) war ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker und Professor für Entwicklungspsychologie. In Harvard entwickelte er das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung auf der Basis des Freud´schen Stufenmodells. Auch heute ist das Modell eines der zentralen Grundlagenmodelle für die Entwicklung der Identität eines Menschen.

1. Ziele

Mit Hilfe von Eriksons Stufenmodell lässt sich mitverfolgen, welche Entwicklungen der Mensch in seinen verschiedenen Lebensphasen, beziehungsweise Altersstufen durchlaufen sollte. Dies kann einen Richtwert vorgeben und dabei helfen, Kinder in bestimmten Altersstufen nicht zu über- oder unterfordern – es gibt eine Einschätzung über die kindlichen Kompetenzen vor. Ebenso kann mit Hilfe des Modells herausgefunden werden, welche Herausforderungen in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen noch nicht bewältigt wurden. Das Modell soll zeigen, mit welchen Konflikten sich der Mensch in welcher Phase seines Lebens beschäftigen muss. Durch die Bewältigung der jeweiligen Entwicklungsherausforderungen in den unterschiedlichen Phasen soll es gelingen, eine stabile Persönlichkeit/Identität aufzubauen und eine Orientierung zu sich selbst und den Personen in seiner Umwelt zu finden.

2. So geht das

Erikson verfolgt die Annahme, dass der Mensch in seiner Persönlichkeitsentwicklung acht unterschiedliche Stufen durchläuft. Diese Stufen sind von Geburt an angelegt, sodass jedes Kind sie durchlaufen muss. Jede Stufe wird geprägt durch Entwicklungsaufgaben, beziehungsweise Krisen, die bewältigt werden müssen. Krisen können sowohl positiv als auch negativ bewältigt werden. Erikson sagt, dass wir im Leben immer wieder krisenhafte Situationen erleben und diese stets negativ bewerten. Für ihn sind Krisen allerdings notwendige Prozesse und Meilensteine, die dem Menschen erlauben, über sich hinauszuwachsen und zu lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Die Krisen äußern sich in jeder Stufe in einer bestimmten Thematik und einem Zusammenspiel von zwei Extremen, die sich zu einer Entwicklungsaufgabe zuspitzen. Erst wenn die Krise bewältigt wurde, kann der Mensch die nächste Stufe erreichen, in der eine neue Aufgabe auf ihn wartet. Die erfolgreiche Bewältigung einer Krise definiert Erikson durch das Finden einer Balance, beziehungsweise eines Mittelwerts.

1.Stufe: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (0-1 Jahre):

In dieser Stufe ist das neugeborene Kind auf die Verlässlichkeit seiner Bezugspersonen angewiesen. Besonders wichtig ist hier die Bindung zu seiner Mutter, da sie als erste Bezugsperson für das Kind präsent ist. Das Kind muss früh lernen, Vertrauen zu seiner Mutter aufzubauen ohne eine vollkommene emotionale Abhängigkeit zu entwickeln und somit auch lernen, keine Angst zu haben, wenn die Mutter mal kurz abwesend ist. Wenn das Kind nicht ausreichend Nähe und Geborgenheit von seiner Mutter bekommt, entwickelt es Ängste und ein Gefühl von Hilflosigkeit und es besteht die Gefahr, dass sich ein Misstrauen bei dem Kind entwickelt. Wichtig ist es, hier eine gesunde Balance zu finden und ein Urvertrauen zur Mutter aufzubauen.

2.Stufe: Autonomie vs. Scham und Zweifel (2.-3. Lebensjahr):

In dieser Stufe entwickelt das Kind die Fähigkeit und den Willen, seine Umwelt zu explorieren und sich selbstständig zu bewegen. Das Kind muss lernen, dass es explorieren kann, ohne dass das zuvor gewonnene Vertrauen in Gefahr gerät. Auch die Eltern müssen hier bereit sein, ihr Kind eigenständig die Umwelt erkunden zu lassen. Wenn das explorative Verhalten des Kindes eingeschränkt wird, kann dies dazu führen, dass es seine Bedürfnisse und Wünsche als nicht akzeptabel empfindet und Scham und Zweifel beim Kind aufkommen.

3.Stufe: Initiative vs. Schuldgefühl (4.-5. Lebensjahr):

Im Spiel entdeckt das Kind verschiedene Rollen des Menschen in der Gesellschaft und erfüllt sie. Es lernt, sich zu identifizieren und Rollen auszuprobieren. Während dieser Phase können ebenso Konkurrenzkämpfe und Eifersucht auftreten, wobei sich Erikson stark am Aspekt des „Ödipuskomplex“ nach Freud orientiert. Das Kind will als etwas Besonderes behandelt werden und lehnt es ab, wenn die Mutter/ der Vater jemand anderem Aufmerksamkeit schenkt. Wenn das Kind nicht ausreichend Aufmerksamkeit erfährt, empfindet es Angst- und Schuldgefühle.

4.Stufe: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr- Pubertät):

Diese Stufe wird insbesondere durch den Eintritt in das Schulleben geprägt. Das Kind lernt, wie es durch eigene Motivation und eigenen Antrieb etwas erreichen kann und erfährt sich als selbstwirksam. Erfährt das Kind für das, was es leistet zu wenig oder sogar keine Anerkennung, kann dies zu Minderwertigkeitsgefühlen beim Kind führen.

5.Stufe: Identität vs. Identitätsdiffusion (Adoleszenz):

In dieser Stufe beginnen Jugendliche, bewusst nach der eigenen Identität zu suchen. Dies geschieht über das Ausprobieren und Erproben von Selbstständigkeit und der Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen und Werten. Diese eigenen, persönlichen Aspekte müssen mit denen der Gesellschaft verknüpft werden und der Mensch muss herausfinden, wie er in diese Gesellschaft passt. Wenn es nicht gelingt, eine eigene Identität aufzubauen, sucht der Jugendliche verzweifelt nach seiner Rolle im Leben und in der Gesellschaft. Dies kann zu starker Verzweiflung führen. Schafft der Mensch es nicht, seine Rolle in der Gesellschaft und seine Identität zu finden, erlebt er dies als Zurückweisung. In dieser Stufe spielen Peer Groups eine große Rolle, in denen der junge Mensch Gleichgesinnte sucht.

In Eriksons Stufenmodell folgen drei weitere Entwicklungsphasen für das Erwachsenenalter, die hier nicht dargestellt werden, weil sie für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht relevant sind.

3. Beispiel

Lena (6 Jahre) kommt im Sommer in die zweite Klasse der örtlichen Grundschule. Im ersten Schuljahr auf der Grundschule fiel es Lena leicht, dem Lehrstoff zu folgen. Sie schrieb gute Noten und hatte Spaß daran, für die unterschiedlichen Fächer zu lernen. Nach den Klassenarbeiten kam sie mit einem guten Gefühl nach Hause und freute sich stets über ihre guten Noten. Gegen Ende des ersten Schuljahres hatte Lena jedoch zunehmend Probleme, im Englischunterricht mitzuhalten. Sie hatte Schwierigkeiten, sich die neuen Vokabeln zu merken, die Vokabeltests machten Lena besonders Angst und ihre Noten in Englisch wurden immer schlechter. Daraufhin hatte Lena keine Motivation mehr, für die Schule zu lernen und verweigerte die Hausaufgaben.

Laut dem Stufenmodell von Erikson befindet sich Lena zurzeit in der 4. Stufe (Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl). In dieser Stufe geht es um das Erfahren von Anerkennung für die eigenen Leistungen und die eigene Motivation. Dadurch, dass Lena Schwierigkeiten mit dem Englischunterricht und dem Erlernen von Vokabeln hat, werden ihre Noten immer schlechter. Sie erfährt keine Erfolgserlebnisse mehr und ihre Motivation, weiterhin für die Schule und insbesondere für das Fach Englisch zu lernen sinkt immer mehr. Um diese Krise erfolgreich zu bewältigen, könnte man als Fachkraft Lena dabei unterstützen, die englische Sprache spielerisch und ohne Druck, in gezielten Situationen oder auch im Alltag zu erlernen und wieder Gefallen an ihr zu finden. Besonders wichtig wäre es, hier kleinschrittig zu arbeiten und Lena Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, sodass sie sich als selbstwirksam erfahren und neue Eigenmotivation für die Schule entwickeln kann.

4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten, Kritik

Auch wenn die Entwicklungsstufen von Erikson ein wichtiges Grundlagenmodell für die Entwicklung von Identität darstellen, gibt es einige Punkte, die kritisch betrachtet werden müssen. Allgemein fällt auf, dass die Entwicklung von Identität nach Erikson immer nach dem gleichen Ablauf erfolgt. Er betont, dass es wichtig ist, die jeweilige Entwicklungsaufgabe zu bewältigen, um in die nächste Stufe zu gelangen. Hierbei berücksichtigt Erikson jedoch nicht die Individualität des Menschen und den Aspekt, dass beispielsweise Menschen mit Behinderung und einer verzögerten Entwicklung von der von ihm beschriebenen Norm abweichen können und bestimmte Entwicklungsaufgaben vielleicht erst zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben bewältigen können.

In Bezug auf die Entwicklungsaufgaben, beziehungsweise die Krisen, ist es ebenso schwierig festzulegen, wann eine Krise erfolgreich bewältigt wird, denn die von Erikson beschriebenen Herausforderungen und Krisen werden in jeder Kultur anders definiert und bewältigt. Auch die Auswirkungen von der Zugehörigkeit eines Menschen zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen und Schichten auf die Entwicklung von Identität wird nicht berücksichtigt. Ebenso muss das Bild einer gesunden Persönlichkeit nach Erikson kritisch hinterfragt werden. Bei seiner Beschreibung orientiert er sich stark an den Grundtugenden der Gesellschaft, wie Leistung, Initiative und Werksinn. Demnach stellt sich die Frage, ob eine gesunde Persönlichkeit nach Erikson weniger eine individuelle, einzigartige Persönlichkeit, sondern vielmehr eine gesellschaftlich angepasste Persönlichkeit ist.

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