Postkoloniale Pädagogik
1. Beschreibung der Herausforderung
Mit der Ozeanüberquerung von Christoph Kolumbus im Jahre 1492 begann ein Zeitabschnitt der Herrschaft Europas (später auch Amerikas und Teilen Asiens) über weite Teile der Welt. Europäische Länder dehnten ihre Herrschaftsmacht auf außereuropäische Gebiete aus, mit dem Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung. Diesen Prozess nennt man Kolonialisierung. Im 20. Jahrhundert herrschte Europa über 85% des globalen Territoriums. Diese Herrschaft war durch Ausbeutung, Versklavung, Diebstahl und Missionierung geprägt und hatte weitreichende, negative Folgen für die betroffenen Gebiete. Zu den Kolonialmächten zählt auch Deutschland mit Kolonien unter anderem in Namibia.
Im Anschluss an die Kolonialisierung folgte in den meisten Fällen die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien. Diesen Prozess nennt man Dekolonialisierung. In dem Zeitraum zwischen 1945 und 1975 erlangten die meisten Kolonien ihre Unabhängigkeit in überwiegend friedlichen Auseinandersetzungen, aber auch in jahrzehntelangen blutigen Konflikten. Grundlagen der Aufstände gegen die Kolonialmächte waren Netzwerke und Bewegungen, welche schon Jahre im Voraus gegen die Unterdrückung kämpften. In den Netzwerken stellten sich Fragen wie: „Wer sind wir?“ „Wie hätten wir uns entwickelt ohne europäischen Einfluss?“ „Was ist unsere Kultur?“ „Wer ist eigentlich zivilisiert und unzivilisiert und was bedeutet das?“. Die Menschen thematisierten also schon zur Kolonialzeit Fragen kultureller und ideologischer Art und setzten sich kritisch mit der Kolonialisierung und ihrem Einfluss auseinander.
Mit der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien und der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit könnte man annehmen, die Thematik gehöre der Vergangenheit an. Das ist nicht richtig. Noch immer hat die Kolonialisierung weitreichende Folgen. Der Begriff Postkolonialismus versucht diese zu beschreiben. Dafür haben verschiedene Theoretiker*innen Theorien entworfen, die sogenannten ‚Postkolonialen Theorien‘. Diese analysieren, wie Kolonialismus vergangene und heutige Gesellschaftsformen prägt, inwiefern die damaligen Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Europas) in anderen Formen weiter bestehen. Innerhalb einiger Theorien wird sich mit der ‚epistemischen Gewalt‘ auseinandergesetzt. Epistemische Gewalt meint, wie durch Wissen Macht auf Betroffene ausgeübt werden kann, in dem es diesen beispielsweise vorenthalten wird oder ausgebeutet wird. Es kann auch bedeuten, dass im Wissen selbst bereits ein Beitrag angelegt ist, der die bestehenden Machtverhältnisse weiter festigt und kaum nachweisbar oder analysierbar ist.
Für die Postkolonialen Theorien sind die Erfahrungen, welche durch die Betroffenen gemacht wurden, grundlegend und zeigen die Unterdrückungsmuster deutlich auf. Als ein Beispiel für die Auswirkungen der Kolonialisierung bis heute wird nun die Postkoloniale Theorie des Orientalismus dargestellt. Eine weitere prominente Theorie ist „Can the subaltern speak“ von Gayatri Chakravorty Spivak.
Was ist der Orient? Im Internet finden sich dubiose Karten auf denen verschiedene Gebiete eingezeichnet sind, welche stets außerhalb Europas liegen. Fakt ist jedoch, dass es niemals ein sogenanntes ‚Orientalisches Reich‘ gab. Hinter dem Begriff verbirgt sich die eine westliche Darstellung des ‚Orients‘ als das ‚Andere‘ Europa. Mit dieser Darstellung einher gehen die Übernahme negativer Selbstbilder Betroffener, sowie das Fortbestehen des Machtgefälles der Länder Europas gegenüber anderen Nationen. In der Theorie des Orientalismus werden diese Machtverhältnisse kritisiert und näher beleuchtet.
Dieses Forschungsfeld wurde insbesondere durch die von Edward Said 1978 publizierte Studie „Orientalism“ beeinflusst. Hierbei wird die Theorie des Orientalismus in drei verschiedene Bedeutungsebenen unterteilt. Die erste Ebene beschreibt Orientalismus lediglich als Gesamtprodukt aller akademischer Aussagen. Das lässt sich mit dem Begriff der Orientalistik beschreiben, vergleichbar mit anderen historisch-philologischen Wissenschaften wie beispielsweise der Arabistik (die Wissenschaft von der arabischen Sprache und dem arabischen Schrifttum). Diese Ebene ist in Hinsicht der Thematik des Postkolonialismus jedoch zu vernachlässigen.
Die zweite Ebene beschreibt eine (europäische) Denkweise der Unterscheidung zwischen Orient und Okzident. Der Begriff Okzident beschreibt das Abendland, das heißt die europäischen Nationen. Es wird also der sogenannte ‚Orient‘ dem ‚Okzident‘ gegenübergestellt. Innerhalb der Darstellung wird der ‚Orient‘ als das exotische, festgeschriebene ‚Andere Europa‘ beschrieben, ohne auf die historische Vorgeschichte einzugehen. Wichtig ist, dass diese Gegenüberstellung für die Bildung des heutigen Selbstverständnisses der Europäer eine entscheidende Rolle spielte. Durch diese fälschliche Abgrenzung entdeckten wir, wer wir zu sein glauben. Der Mechanismus, der hier beschrieben wurde, wird auch über den Begriff des ‚Otherings‘ beschrieben. Hier findet eine Distanzierung zu anderen Gruppen (hier den Ländern des Orients) statt, um die eigene Normalität zu bestätigen. Es kommt gleichzeitig zu einer Zuschreibung kultureller, oft negativer Eigenschaften gegenüber der anderen Gruppe. Innerhalb der Arbeit von Sozialarbeiter*innen findet sich dies beispielsweise in der Haltung wider, ausländische Frauen vor den ‚gefährlichen‘ ausländischen Männern schützen zu wollen, ohne diese überhaupt zu kennen.
Die dritte Bedeutungsebene beschreibt den Diskurs, den wir über den ‚Orient‘ führen, wie wir über diese Menschen und Gebiete sprechen. Das ist geprägt davon, dass wir über den ‚Orient‘ sprechen, als das passive, unterlegene und zu beherrschende „Andere Europa“. Wichtige andere Leitthemen in dem Diskurs sind Phantasien eines ‚erotischen Orients‘, sowie Darstellungen von Gewaltherrschaften in den betroffenen Ländern. Durch diesen Diskurs wird ermöglicht, dass der Westen weiterhin über den ‚Orient‘ herrscht und diesen unterdrückt. Dadurch, dass in dieser Art und Weise über Gebiete und Menschen des ‚Orients‘ gesprochen wird, übernehmen diese dieses Wissen teilweise in ihr Selbstbild. Es kommt zu der sogenannten Internalisierung.
Gerade wenn man sich Bücher von Jane Austin und Charles Dickens durchliest und auf die Darstellungen achtet, bemerkt man, dass es sich hier um einen dominierenden Diskurs handelt, den viele Europäer schon unterbewusst mit solchen Geschichten von früher Kindheit an kennengelernt haben, und dem man sich nur schwer entziehen kann.
2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken
Für die Arbeit von Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und Pädagog*innen sind die Kenntnisse über die Auswirkungen des Kolonialismus bis heute relevant. Auch wir sind verwickelt in die beschriebenen Macht- und Herrschaftsdiskurse und sollten uns dessen auch bewusst sein. In der Arbeit mit geflüchteten Menschen kommt es häufig zu dem sogenannten ‚Double Bind‘. Während wir gleichzeitig nach außen eine ‚Willkommenskultur‘ versuchen darzustellen, müssen sich die Betroffenen vor Ort einem strengen Ordnungsregime unterwerfen. Somit senden wir derzeit paradoxe europäische Botschaften. Zudem sehen und stellen wir uns gerade in diesem Arbeitsfeld oft als die ‚Helfenden‘ dar. In dieser Praxis des Helfens offenbaren sich Auswirkungen des Kolonialismus, da die Helfenden stets über den Hilfebedürftigen stehen und es zu einer Dysbalance anstelle der professionellen Koproduktion kommen kann. Integration wird in der Arbeitspraxis häufig nur als erfolgreich angesehen, wenn sich die ‚Anderen‘ anpassen.
Es sollte ein Diskurs über fehlende Repräsentation und Subalternität geführt werden. In vielen Gebieten der Welt werden Menschen und Frauen unterdrückt. Gerade durch europäische Einflussnahme kommt es jedoch zu dem paradoxen Moment, dass diese Menschen ihre eigene Stimme gänzlich verlieren und sich entweder europäischen Stimmen oder der herrschenden Unterdrückung unterordnen müssen. Gayatri Chakravorty Spivak beschreibt dieses Phänomen in: “Can the subaltern speak?”.
Wir betrachten Europa als Raum von Freiheit und Emanzipation, sollten uns jedoch bewusst sein, dass Werte und Menschenrechte nicht universell sind. Daraus sollte eine kritische Auseinandersetzung mit Menschenrechten, Menschsein und den Schattenseiten Europas folgen. Es gilt zu fragen, mit welchem Recht Europäer*innen darüber entscheiden, ob und welchen Menschen sie Schutz bieten? Eine postkolonial-informierte Soziale Arbeit fordert ethische Praxen. Es finden zu wenig Gespräche über politische Hintergründe und Verantwortlichkeiten von westlichen Ländern statt.
Im Umgang mit Flucht und Migration finden sich in Teilen der Bevölkerung Angst vor Verlust von Privilegien und Vormachtstellungen. Angst ist keine gute Grundvoraussetzung für eine professionelle Arbeitshaltung und Behandlung von Personen. Es ist nicht auszuschließen, dass es zu einem Wohlstandsverlust in westlichen Ländern innerhalb der nächsten Jahre kommen kann. Neben der Angst findet sich häufig auch Mitleid gegenüber geflüchteten Personen. Dies wiederum führt zu einer Abstempelung von Hilfsbedürftigkeit dieser Personengruppe. Das ist ebenfalls zu hinterfragen und führt zu der bereits erwähnten Dysbalance von Helfenden und Hilfsbedürftigen.
Im Bereich der Kinder und Jugendhilfe sollten besonders Konzepte und Auffassungen von Kindheit immer wieder neu hinterfragt werden. Andere Kulturen und Personen können ein anderes Bild von Kindheit haben, welches nicht unserem, dominierenden Bild entspricht. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Auffassungen gleich als negativ zu werten sind. Das Aufdrängen eines westlichen Bildes von ‚versorgter Kindheit‘ hat eine bevormundende und kolonialisierende Funktion und muss kritisiert werden. Nicht klar ist, inwiefern mit einer potentiellen Kindeswohlgefährdung oder insbesondere grenzwertigen Erziehungsstilen von Familien umgegangen werden kann, wenn gleichzeitig versucht wird, Respekt vor unterschiedlichen Bildern von Kindheit zu gewährleisten. Hier kommt es zu unterschiedlichen fachlichen Argumentationen.
In der Ausbildung von Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen und Pädagog*innen müssten die Inhalte angepasst werden: „Es braucht intellektuelle Instrumente um komplexe globale Verflechtungen, dilemmatische soziale Situationen, die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Kolonialismus und traditionellen ethischen Vorstellungen zu begreifen und adäquat auf eine mehr und mehr komplexe Welt zu reagieren.“ (Castro Varela, Mohamed, Sabine 2021, S. 11)
Gayatri Chakravorty Spivak spricht in diesem Zusammenhang von der Taktik der affirmativen Sabotage. Es geht nicht darum europäisches Wissen zu verdammen, sondern darum, Wissen und ethische Modellierungen (z.B. Menschenrechte) genau zu lesen und Widersprüche aufzudecken. Letztlich ist das Wissen um die Thematik und eine kritische Selbstreflexion der Schlüssel für erfolgreiche Arbeit.
3. Fragen zum Weiterdenken
- Aus welcher Position heraus sprechen und schreiben wir als Sozialarbeiter*innen / Pädagog*innen?
- Über was und wie sprechen wir als Sozialarbeiter*innen und Pädagog*innen und über welche Inhalte wird nicht gesprochen?
- Wie können Sozialarbeiter*innen die Effekte und Verkörperungen einer gesellschaftlichen Exklusion in ihrer Arbeitspraxis verorten, verarbeiten, widerlaufen und produktiv machen, so dass die Adressat*innen ihrer Arbeit als Subjekte angesprochen, gehört werden und teilhaben können?
- Was bedeutet es eine ‚Kultur‘ zu beschreiben? Was bedeutet es über gesellschaftlich marginalisierte Gruppen und Individuen Bericht abzulegen?
4. Material / Links
Zum Weiterlesen:
Bundeszentrale für politische Bildung. (14.4.23). Dekolonisation. Abgerufen von:
Bundeszentrale für politische Bildung. (14.4.23). Kolonialismus. Abgerufen von
https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17718/kolonialismus/
Castro Varela, M. do M., & Dhawan, N. (2020). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Transcript Verlag.
Liebel, M. (2017). Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und Widerstand. Beltz Verlag.