Konstruktivismus

Konstruktivismus ist eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche Erkenntnistheorien – darunter fallen z.B. der radikale Konstruktivismus und der interaktionistische Konstruktivismus. Alle diese Ansätze basieren auf derselben Grundthese, dass der Mensch sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Immanuel Kant (1724-1804) war der erste Theoretiker, der die Annahme vertrat, dass Realität nicht „einfach so da ist“, sondern von einem Beobachter / einer Beobachterin fortlaufend erzeugt werden muss und somit „etwas erkennen“ immer auch subjektive Anteile beinhaltet. Nach ihm folgten viele weitere Theoretiker*innen, die diesen Gedanken fortführten.

1. Ziele der Methode

Der Konstruktivismus möchte aufzeigen, dass die Realität, in der wir leben, konstruiert ist (gebildet wird). Er geht davon aus, dass es keine einheitliche Realität gibt, da jeder Mensch den Zustand, den wir Realität nennen, individuell wahrnimmt und somit alle ihre eigene Realität konstruieren. Anders ausgedrückt: Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugriff auf die objektive Realität. Er kann nie die wirkliche Beschaffenheit der Dinge erkennen, sondern nur das, was er mit seinen Sinnen aufnimmt und dann vor dem Hintergrund seiner Vorerfahrungen interpretiert. Da unser Verständnis von Realität unser Denken und Handeln beeinflusst, sollten wir uns bewusst sein, dass diese Realität unsere eigen konstruierte ist und jeder Mensch eine eigene Realität hat.

2. So geht das

Der Konstruktivismus streitet nicht ab, dass es eine objektive und feststehende Realität gibt. Sie ist jedoch für den Menschen nicht sicher erkennbar. Es lässt sich nicht sagen, ob die Dinge, wie wir sie wahrnehmen, wirklich so sind. Wir Menschen nehmen nur ein Konstrukt der Wirklichkeit wahr, dieses Konstrukt ist unsere wahrgenommene Realität, jedoch nur ein ganz kleiner subjektiver Ausschnitt von der Wirklichkeit.

Konstrukte entstehen dadurch, dass Menschen in Rastern denken. Unterbewusst sortieren wir Ereignisse und Geschehnisse in bestimmte Kategorien ein. Wird eine bestimmte Information abgerufen, schließen sich automatisch andere Informationen dieser an; das wird auch als Assoziation bezeichnet. Das Prinzip gilt für alles, was wir sehen, hören und uns vorstellen.

3. Beispiel

Als beispielhafte Situation kann man sich vorstellen, wie einer Fachkraft von der Lebenssituation eines Klienten erzählt wird. Anhand der möglicherweise lückenhaften Erzählung konstruiert die Fachkraft ein mögliches Problem. Die Gefahr besteht darin, dass die bekommene Information mit der eigenen Vorstellung verknüpft und nicht nach den Hintergründen und ggf. abweichenden Wahrnehmungen und Einschätzungen gefragt wird. Der/die Sozialarbeiter*in sollte stets nach weiteren wichtigen Erläuterungen fragen, um die Situation des Klienten, dessen Realität zufolge erfassen zu können und nicht Gefahr zu laufen, dass die eigenen Fantasien und Vorstellungen automatisch die lückenhafte Vorstellung auffüllen.

4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten und Kritik

Eine wichtige Voraussetzung des Konstruktivismus ist, dass die eigenen Konstruktionen jeweils durch Andere relativiert werden können. Wenn dem nicht so wäre, würden die Menschen ihre Version der Wirklichkeit für die letztbegründete halten und universell durchsetzen. Wenn Eltern und Fachkräfte bzgl. der Lebenssituation eines Kindes also sehr unterschiedliche Einschätzungen haben, hilft der Konstruktivismus dabei, diese Differenzen zunächst gleichermaßen für „wahr“ zu halten. Weitere Beobachtungen von Dritten können helfen, die Bewertungen abzugleichen und gemeinsame Deutungen zu produzieren.

Gleichermaßen hilft der Konstruktivismus dabei, Akten und Unterlagen, in denen Kinder und Familien als „Fälle“ konstruiert werden nur begrenzte Wahrheit und Plausibilität zuzuschreiben. Es gibt keinen „Fall an sich“ und diese Erkenntnis kann dazu beitragen, immer vorsichtig mit den Aussagen in solchen Dokumenten umzugehen.

Der radikale Konstruktivismus bestreitet, dass es überhaupt so etwas wie die Wirklichkeit gibt. In diesem Sinne wäre es absurd, anzunehmen, dass es Gewalt in Familien, oder Verhaltensauffälligkeiten von Kindern ‚wirklich‘ gibt. Diese Perspektive kann in der Sozialen Arbeit manchmal hilfreich sein, macht aber Entscheidungen und Handlungsplanungen auch sehr schwierig oder ggf. unmöglich.

 

5. Material / Links

Erklärfilme zum Konstruktivismus:

https://www.youtube.com/watch?v=J4-Wk3aCcY8 (kurz und knapp)

https://soziopod.de/2012/09/soziopod-019-konstruktivismus-ernst-heinz-und-karl-oder-die-wahrheit-mit-halbwertszeit/
(ausführlich mit Prof. Nils Köbel von der KatHo Mainz)

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