Kindlichen Glauben verstehen

1. Beschreibung der Herausforderung

Der Glaube eines Menschen beginnt, sobald er als Kind anfängt, die Welt um sich herum zu entdecken. Kinder sind von Natur aus Wesen, die nach Bedeutung und Sinn suchen und viele Fragen stellen. Viele Kinder glauben so an eine höhere Macht oder an religiöse, spirituelle Praktiken, die ihnen häufig von ihren Eltern, Großeltern oder anderen Familienmitgliedern vermittelt werden. Für viele Kinder ist dieser religiöse Glaube ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität und ihres sozialen Lebens. Es gibt aber auch Kinder, die keinen religiösen Glauben haben und sich früh als Atheisten verstehen. Diese betrachten die Welt aus einer nichtreligiösen Perspektive und suchen nach Bedeutung und Sinn jenseits von religiösen Überzeugungen. Wie der religiöse Glaube kann Atheismus so ebenfalls ein bedeutender Aspekt ihrer Identität sein, der eine wesentliche Rolle in ihrem sozialen Leben spielt. Im vorliegenden Text wird der Fokus auf den kindlichen, religiösen Glauben gelegt.

 

Dieser kindliche Glaube unterscheidet sich von dem der Erwachsenen – hier ist vor allem die kindliche, kognitive Entwicklung zu beachten. So haben Kinder zunächst begrenzte Fähigkeiten, abstrakte Konzepte zu verstehen, und ihr Glaube kann von magischem Denken und Fantasie geprägt sein. Zudem haben sie möglicherweise Schwierigkeiten, ihre Glaubensvorstellungen und -erfahrungen in Worte zu fassen. Gedanken und Fragen können möglicherweise nicht klar ausdrückt werden, sodass Einfühlungsvermögen und Geduld erforderlich sind, um ihnen zu helfen, ihre Gefühle und Überzeugungen zu kommunizieren. Besonders da der kindliche Glaube oft Fragen zu sensiblen Themen wie Tod, Leid und dem Sinn des Lebens beinhalten kann, bedarf es dementsprechend einer angemessenen, altersgerechten und verständlichen Sprache. Die Auseinandersetzung mit Fragen von Kindern wie „Woher kommen wir?“ oder „Was passiert nach dem Tod?“ sollte nicht zu einer Überforderung und  Verängstigung dieser beitragen.

 

Es gilt zu benennen, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Glaubenssysteme und -praktiken haben, die das Verständnis und die Entwicklung des kindlichen Glaubens beeinflussen können. Die Überzeugungen des kindlichen Glaubens können so je nach kulturellem Hintergrund, religiöser Tradition und sozialem Kontext variieren. Diese unterschiedlichen Überzeugungen zu (er-)kennen und zu respektieren, stellt dabei eine wichtige Herausforderung dar. Es erfordert Sensibilität und Offenheit der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, um die individuellen Glaubensvorstellungen und -prägungen der Kinder zu identifizieren sowie um diese verstehen und angemessen darauf eingehen zu können.

 

In der Kinder- und Jugendhilfe ist ein offener und aufklärender Umgang mit dem Thema Glaube besonders wichtig, da hier religiöse Praktiken alltäglich ausgelebt werden sowie Themen und Fragen täglich aufkommen können, die mit unterschiedlichen Religionen, Kulturen und der persönlichen Findungsphase in Verbindung stehen. Kinder kommen hier zudem oft mit Menschen verschiedener Glaubensrichtungen und kultureller Hintergründe in Kontakt, sodass es vor allem für die Fachkräfte von großer Bedeutung ist, die Möglichkeiten zu haben, sich mit dieser Vielfalt auseinanderzusetzen. So erfordert es ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz und Sensibilität, um den unterschiedlichen Glaubensvorstellungen gerecht zu werden und ein respektvolles Umfeld zu schaffen, in dem Kinder ihren Glauben frei erkunden und ausdrücken können.

2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken

Um die spirituellen, religiösen Bedürfnisse und Überzeugungen von Kindern richtig zu verstehen und einzuordnen, ist es wichtig, Kenntnisse über die kindliche Entwicklung zu haben. Zum einen kann hier das Genetische Entwicklungsmodell von dem Schweizer Psychologen Jean Piaget Erwähnung finden. Zudem haben die Schweizer Theologen Fritz Oser und Paul Gmünder ein Stufenmodell des religiösen Urteils entwickelt, das auf dem kognitiven Stufenmodell von Piaget und der Theorie der moralischen Entwicklung von Kohlberg basiert. Indem die spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten jedes Stadiums der beiden Modelle berücksichtigt werden, kann der kindliche Glaube in Bezug auf die kognitive Entwicklung analysiert werden. Des weiteren hat der amerikanische Theologe James W. Fowler eine Glaubensentwicklungstheorie mit sechs Stufen (inkl. einer Vorstufe 0) entwickelt, auf welche sich im Folgenden bezogen wird. Hier ist es wichtig zu betonen, dass das Modell Entwicklungsstufen umfasst, die sich über die gesamte Lebensspanne erstrecken können und nicht alle Menschen alle Stufen des Fowler’sche Modells der Glaubensentwicklung zwingend durchlaufen, da die Entwicklung in unterschiedlichem Tempo voranschreiten kann. Dennoch kann das Modell als wertvolles Werkzeug für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe dienen, um den kindlichen Glauben zu verstehen und angemessene Unterstützung anzubieten.

 

Gemäß dem Fowler’schen Modell beginnt die Glaubensentwicklung in der frühen Kindheit mit der intuitiv-projektiven Glaubensphase. Kinder nehmen dabei den Glauben aus ihrer Umwelt auf und kombinieren ihn mit ihrer lebhaften Fantasie, um eigene Deutungsmuster zu erschaffen. Das Einfühlungsvermögen ist hier noch rudimentär und geschieht aus einer egozentrischen Perspektive, ohne die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Themen wie „Gut und Böse“ oder „Leben und Tod“ werden in das eigene Vorstellungsbild integriert, ohne dass sie kritisch hinterfragt werden können. In dieser Phase der Entwicklung ist es also wichtig, besonders sensibel für die kindliche Fantasie und ihren Glauben zu sein, da Kinder in dieser Stufe intensiv ihre Vorstellungswelt erschaffen. Fachkräfte sollten diese Fantasie respektieren und als Ausdruck des kindlichen Glaubens verstehen. Ein einfühlsames Zuhören ist von großer Bedeutung, da Kinder in dieser Stufe noch Schwierigkeiten haben, Perspektiven anderer zu übernehmen. Es gilt hier die kindlichen Äußerungen ernst zu nehmen und verstehen, dass die Kinder ihre eigene Wirklichkeit erschaffen und diese als real empfinden. Weiterhin sollte in der Arbeit mit Kindern in dieser Stufe nicht in erster Linie darauf abgezielt werden, den kindlichen Glauben zu korrigieren oder zu beeinflussen. Vielmehr ist es wichtig, den Kindern Raum zu geben, ihre Vorstellungswelt auszuleben und zu erkunden. Da Kinder in dieser Stufe noch nicht die Fähigkeit haben, Glaubensinhalte kritisch zu hinterfragen, ist eine nicht-kritische Auseinandersetzung angebracht, jedoch sollten grundlegende Themen wie „Gut und Böse“ angesprochen und in einem altersgerechten Rahmen besprochen werden, um die kindliche Entwicklung zu unterstützen.

 

In der zweiten mystisch-wörtlichen Stufe können Kinder die fantasievolle Welt der vorherigen Stufe besser ordnen und zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Kinder können Glaubenselemente anderer hinterfragen und nehmen sie erst nach einem „bestandenen Test“ in ihr eigenes Wissen auf. Glaubensinhalte werden wörtlich interpretiert, und Moral wird im Sinne gegenseitiger Fairness verstanden. Das Gottesbild ist anthropomorph, und Kinder können bereits eine Projektion von ihren Eltern auf Gott vornehmen. Fachkräfte können diese Entwicklung unterstützen, indem sie Kinder ermutigen, Fragen zu stellen, verschiedene Perspektiven zu betrachten und ihre eigenen Glaubensvorstellungen zu reflektieren. Dies hilft den Kindern, einen kritischen und reflektierten Umgang mit ihrem Glauben zu entwickeln.

 

In der dritten synthetisch-konventionellen Stufe sind Kinder bzw. Jugendliche oft stark engagiert in ihren Überzeugungen und Werten, haben jedoch in der Regel noch nicht den Schritt gemacht, ihr Glaubenssystem von außen zu reflektieren. Obwohl diese Stufe hauptsächlich mit der frühen Adoleszenz assoziiert wird, verbleiben viele Erwachsene möglicherweise lange Zeit oder sogar dauerhaft in dieser Stufe und finden hier ihr Gleichgewicht. In dieser Phase spielen soziale Zugehörigkeit und Identifikation mit Gruppen eine wichtige Rolle. Fachkräfte sollten die Bedeutung sozialer Beziehungen und die Suche nach Identität in dieser Phase berücksichtigen, indem sie eine unterstützende und inklusive Umgebung schaffen. So können sie den Kindern helfen, ihre eigenen Überzeugungen und Werte innerhalb der sozialen Kontexte zu entwickeln. In dieser Phase ist es wichtig, dass Kinder lernen, ihren Glauben, ihre religiösen Überzeugungen auf positive Weise in ihr Verhalten einzubringen und andere mit Respekt und Mitgefühl zu behandeln. Gleichzeitig sollten sie auch die Freiheit haben, ihre eigenen moralischen Entscheidungen zu treffen, die unabhängig von religiösen Überzeugungen sind.

 

Es ist wichtig zu verstehen, dass kindlicher Glaube ein wichtiger Teil der kindlichen Entwicklung ist und nicht als negativ betrachtet werden sollte. Kinder müssen lernen, wie man kritisch denkt und Beweise bewertet, aber diese Fähigkeiten entwickeln sich mit der Zeit und erfordern Erfahrung. Es ist auch wichtig zu beachten, dass der Glaube an etwas, auch wenn er naiv erscheint, für Kinder oft eine wichtige Quelle der Sicherheit und des Trostes sein kann. So hat der kindliche Glaube eine stark persönliche Komponente. Kinder suchen nach einer Verbindung zu etwas Größerem als sich selbst, um Sicherheit, Trost und Orientierung zu finden. Ihr Glaube kann sich in Ritualen, Gebeten oder symbolischen Handlungen ausdrücken, die ihnen helfen, eine Beziehung zu ihrer spirituellen Welt aufzubauen. Eltern, Erziehungsberechtigte und Fachkräfte sollten ihre Kinder unterstützen, kritisch zu denken, aber sie sollten auch den kindlichen Glauben respektieren und verstehen, dass er ein wichtiger Teil der kindlichen Entwicklung ist. Indem sie den Kindern erlauben, ihre Fantasie und Vorstellungskraft auszuleben und sie zu ermutigen, Fragen zu stellen und neugierig zu sein, können Eltern und Fachkräfte dazu beitragen, dass Kinder eine gesunde Beziehung zum Glauben aufbauen – sei es dann durch eine religiöse oder durch eine nicht-religiöse Haltung. So ist es an dieser Stelle wichtig zu benennen, dass der kindliche Glaube sich im Laufe der Zeit verändern kann. Manche Kinder verändern ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken im Laufe der Kindheit und Jugendzeit, während andere den Glauben ihrer Kindheit beibehalten und festigen. Es ist wichtig, den kindlichen Glauben in jedem Entwicklungsstadium angemessen zu unterstützen. Besonders in der Kinder- und Jugendhilfe sollten Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, ihren Glauben zu erforschen, auszudrücken oder auch abzulegen. Es ist wichtig, ihnen einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie ihre spirituellen Bedürfnisse erkunden können, ohne Angst vor Ablehnung oder Verurteilung zu haben.

 

Es gilt letztendlich auch zu beachten, dass das Thema des Verständnisses für kindlichen Glauben durch problematische Aspekte geprägt sein kann. So besteht die Gefahr, dass Religion von Trägern sowie von Fachkräften unangemessen aufgedrängt wird, ohne die individuelle Entwicklung und Entscheidungsfreiheit der Kinder zu berücksichtigen. Insbesondere in christlichen Einrichtungen könnte es eine mangelnde Anerkennung anderer Religionen geben, was zu einer Vernachlässigung der Vielfalt und zur Einschränkung der religiösen Freiheit führen kann. Die potenzielle Eröffnung von Wohn- und Tagesgruppen durch muslimische Träger in der Zukunft könnte solche Befürchtungen bei einigen Menschen verstärken und somit eine Debatte über die Religionsfreiheit anregen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es entscheidend, dass Fachkräfte in der Praxis sensibel und respektvoll mit religiösen Überzeugungen umgehen. Es muss vermieden werden, Kindern eine bestimmte Religion aufzudrängen, und stattdessen Raum für die individuelle Entfaltung und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Glaubensrichtungen geschaffen werden.

 

Darüber hinaus ist es wichtig, Eltern und Familien dabei zu unterstützen, einen ausgewogenen und respektvollen Umgang mit religiösen Vorstellungen zu finden. Fachkräfte sollten in der Lage sein, Eltern zu ermutigen, ihre religiösen Überzeugungen nicht rigide auf ihre Kinder zu übertragen, sondern ihnen Raum für eigene Erfahrungen und Entscheidungen zu geben. Dabei können offene Gespräche und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern hilfreich sein.

 

Ein weiterer Schwerpunkt sollte zudem auf der Förderung eines positiven und gesunden Verständnisses von Religion liegen. Fachkräfte sollten Kinder dabei unterstützen, ein differenziertes Bild von Religionen zu entwickeln, das nicht auf Ängsten oder strafenden Göttern basiert. Fachkräfte sollten stets das Wohlergehen der Kinder im Blick behalten und bereit sein, zu erkennen, wann Religion möglicherweise nicht förderlich ist. Sie sollten darauf vorbereitet sein, angemessene Unterstützung und alternative Perspektiven anzubieten, um sicherzustellen, dass die religiösen Bedürfnisse der Kinder respektiert werden und sie in einer positiven und gesunden Umgebung aufwachsen können.

 

Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass ein Bewusstsein notwendig ist, dass Kinder in verschiedenen Entwicklungsstufen unterschiedliche Fragen, Ängste und Bedürfnisse im Zusammenhang mit ihrem Glauben haben können. Indem Fachkräfte die spezifischen Merkmale jeder Entwicklungsstufe verstehen, können sie angemessen reagieren und die Kinder in ihrer individuellen Entwicklung unterstützen.

3. Fragen zum Weiterdenken

  • Gibt es in ihrer Tages-/Wohngruppe einen vergebenen Glauben seitens des Trägers? Bzw. wird ein Glaube im Alltag durch die Fachkräfte vorgelebt? Wie wirkt sich die Vorgabe und ggf. das Vorleben eines Glaubens in Ihrer Tages-/Wohngruppe auf die Jugendlichen aus?
  • Wie könnte in Ihrer Einrichtung über Glauben und die verschiedenen Religionen aufgeklärt werden? Wie können unterschiedlichen Altersgruppen entsprechend an das Thema herangeführt oder über das Thema aufgeklärt werden?
  • Wie würden Sie einem Kind auf eine angemessene, altersgerechte und verständliche Weise das Konzept des Todes erklären?
  • Wie kann in Ihrer Tages-/Wohngruppe Glaube und Religion thematisiert und gelebt werden? Welche Freiräume gibt es und welche können Sie schaffen?

4. Material / Links

Frank, S., Stark, N., Konstantin, K., Losch, M., Volck, S., Löffler, U. & Steinfort, A. (2016). Entwicklungspsychologische Aspekte. In: Bildungsplan 2016: Evangelischer Religionsunterricht. https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-ev/gym/bp2016/fb4/3_hilfen/4_stand/entwicklungspsychologie.pdf

YouTube Video zu Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung: 

https://www.youtube.com/watch?v=yxQM6vUXEJI

Der Podcast ‚Sociopod‘ enthält eine Folge zu Kohlbergs Modell der Moralentwicklung: https://soziopod.de/2018/07/kohlberg-moral-stufen-entwicklungstheorie/

Links zu weiteren Karten:

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