Kindliche Sexualität verstehen

1. Beschreibung der Herausforderung

Die sexuelle Entwicklung eines Menschen beginnt bereits im Mutterleib, wenn sich die Geschlechtsorgane herausbilden. Kinder sind also schon sexuelle Wesen, wenn sie auf die Welt kommen. Doch unterscheidet sich die kindliche Sexualität deutlich von dem, was Erwachsene unter Sexualität verstehen. Bei der kindlichen Sexualität geht es zunächst darum, mit allen Sinnen den eigenen Körper und die Welt um sich herum wahrzunehmen und zu entdecken.

Die kindliche Sexualität ist weniger zielgerichtet und stärker durch Spontanität und Ausprobieren gekennzeichnet. Kindern geht es um das, was sie genau in diesem Moment sehen, spüren, lernen oder erleben. Sie denken nicht darüber nach, wie sich diese Empfindungen in der Zukunft anfühlen oder entwickeln. Ebenso beziehen Kinder ihr Handeln und die Erkenntnisse oder Gefühle auf sich selbst, auch wenn sie andere in diese Aktivitäten mit einbeziehen. Sie suchen natürlich Körperkontakt und Geborgenheit, doch weisen diese Bedürfnisse einen starken Ich-Bezug auf. Ihre Suche nach Nähe zielt darauf ab, sich selbst wohlzufühlen. Kinder gehen dabei sehr unbefangen vor, das heißt sie untersuchen ihren eigenen Körper und die der anderen ohne bestimmte Absichten oder Hintergedanken. Sie tun dies aus reiner Entdeckerfreude und ohne ihre Tätigkeiten als sexuell einzustufen.

Kindern geht es in erster Linie um das Entdecken und Erkunden. Ihre Beschäftigung mit Sexualität ist nicht nur körperlich, sondern hat auch eine soziale Komponente. Beispielsweise geht es darum, dass sich das Kind in seinem Körper wohlfühlt, sich als Junge oder Mädchen wahrnimmt oder sich (etwa beim Vater-Mutter-Kind-Spiel) mit seiner Familie beschäftigt. Sexualerziehung bedeutet nicht nur Aufklärung im Sinne von Informationsvermittlung. Es ist in erster Linie der praktische Umgang miteinander. Die emotionale, gefühlsbetonte Eltern-Kind-Beziehung ist eine Grundlage für die Wirksamkeit anderer Erziehungskomponenten. ‚Streicheleinheiten‘, die das Gefühl einer sicheren Bindung und Geborgenheit vermitteln, sind ebenso lebensnotwendig wie Essen und Trinken. Jedes Kind sucht die Zärtlichkeit der Erwachsenen. Kinder müssen diese reichlich bekommen, um später selbst tiefe emotionale Beziehungen eingehen zu können.

Unbefangenheit und Zärtlichkeit im täglichen Umgang zwischen Eltern und Kleinkindern bilden die Grundlagen der Sexualentwicklung. In späteren Jahren wird die eigene Geschlechtlichkeit zunehmend bewusst erlebt. Das Kind stellt immer mehr neugierige Fragen. Sexuelle Aufklärung bedarf einer angemessenen, altersgerechten und verständlichen Sprache. Erwachsene können die Kinder liebevoll begleiten und ihnen einen offenen, positiven Umgang mit Sexualität vorleben. Das Verwenden offizieller Begriffe wie Glied, Scheide und Geschlechtsverkehr ist notwendig, wirkt aber oft gegenüber der Alltagssprache sehr künstlich, so dass es angenehmer ist, auch einen salopperen Wortschatz zu verwenden (Pullermann, Muschi, …). Eine wichtige Aufgabe besteht zudem darin, Jargon-Formulierungen, die von anderen Kindern oder Erwachsenen aufgeschnappt wurden, zu erklären und entsprechende Synonyme anzubieten.

In Wohn- und Tagesgruppen ist eine offensive Sexualpädagogik einerseits wichtig, weil hier im Zusammenleben Themen und Fragen der Sexualität täglich virulent werden. Zugleich aber ist Sexualpädagogik für viele Fachkräfte ein schwieriges Feld, weil die Fragen oft sehr intim sind, die Tages- oder Wohngruppe wenig Rückzugmöglichkeiten für die individuelle Thematisierung dieser Fragen bietet und das freie Ausleben der Sexualität an rechtliche, persönliche und moralische Grenzen stößt.

Eigentlich müssten Kinder und Jugendliche, die in der Jugendhilfe aufwachsen, die gleichen Möglichkeiten haben, im Jugendalter erste sexuelle Erfahrungen zu machen. Allerdings ist dies in vielen Einrichtungen heikel und kompliziert – nicht selten sind sexuelle Kontakte von Jugendlichen in den Gruppen strikt untersagt und es wird in Kauf genommen, dass diese außerhalb der Gruppe in wesentlich gefährlicheren und ungeeigneteren Räumen stattfinden.

2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken

Um die sexuellen Bedürfnisse und Entdeckungen von Kindern richtig zu verstehen und einzuordnen, ist es wichtig, Kenntnisse über die kindliche Entwicklung zu haben. Verhinderung und Unterdrückung der kindlichen und jugendlichen Sexualität sind schädlich, ebenso wie ein nicht altersangemessener oder auch unbegleiteter Umgang im Sinne von: Die machen schon ihre Erfahrungen. Ein wichtiger Bestandteil der Sexualerziehung ist, Wissen über Geschlechtsverkehr und Verhütung zu vermitteln. Das heißt für die Erwachsenen, sich zu ihrer Sexualität zu bekennen. Wird dieses Thema vermieden, finden Kinder dafür nur eine logische Erklärung: die Unanständigkeit dieses Tuns.

Sexuelle Verhaltensweisen zeigen sich bereits in den ersten Lebensjahren. Der eigene Körper wird spielerisch erkundet, es kommt zur Reizung und Erregung der Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane. Etwa im dritten Lebensjahr beginnen Kinder die beiden Geschlechter zu unterscheiden und werden sich ihrer eigenen Geschlechtszugehörigkeit bewusst. Das führt dazu, dass Kinder wachsendes Interesse an den individuellen Geschlechtsbesonderheiten sowie denen anderer Kinder und Erwachsener entwickeln. Schon früh wird das Verständnis für geschlechtliche Vielfalt durch die Bewertungen und Kommentierungen der Erwachsenen gefördert oder eingeschränkt.

Im Kindergartenalter wird den Kindern verstärkt ihr biologisches und soziales Geschlecht bewusst. Gemeinsam mit anderen Vorschulkindern, bei Mutter/Vater/Kind-, Heirats- oder Doktorspielen kommt es zum wechselseitigen Beschauen des Körpers, zu Umarmungen sowie Betasten des Körpers und Küssen. Diese Spiele sind altersgemäß und gehören zur normalen Entwicklung dazu. Sie sind meist unproblematisch, wenn sich zwei Kinder auf dem gleichen Entwicklungsniveau befinden. Je unterschiedlicher jedoch der Reife- und Entwicklungsstand zwischen Kindern ist, desto größer ist die Gefahr, dass dieses Ungleichgewicht ausgenutzt wird.

Entsprechend den jeweiligen Erfahrungen wird das Partnerverhalten der Eltern oder anderer Erwachsener nachgeahmt. Sexuelle Neugier und entsprechende Handlungen sollten nicht vorschnell als ‚sexualisiertes Verhalten‘ abgetan werden. Kinder lernen, eigene und die Grenzen anderer zu erkennen und auch, diese zu respektieren. Dazu ist es nötig, ihnen unter Umständen auch Grenzen zu erklären. Wenn Kinder ihrer Neugierde, ihrem Lustprinzip und ihrem Bedürfnis nach körperlicher Nähe folgen, gehört das zu den normalen kindlichen Aktivitäten. Anders ist es, wenn gezielt durch Druck, Versprechungen oder körperliche Gewalt sexuelle Handlungen erzwungen werden. In diesem Fall werden die Grenzen übertreten und die Intimsphäre des anderen Kindes missachtet. Für solche Doktorspiele sollten allerdings mit den Kindern Regeln abgesprochen werden, um allen beteiligten Kindern so Orientierung und Sicherheit im Umgang miteinander zu geben.

Im Grundschulalter findet das Kind verstärkt einen kognitiven Zugang zur Sexualität und erwirbt Sachwissen über den menschlichen Körper. In den ersten Schuljahren bleiben Jungen und Mädchen stärker unter sich, bilden gleichgeschlechtliche Gruppen und grenzen sich voneinander ab. Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen werden verspottet. Es kommt auch zu sexuellen Attacken zwischen den Geschlechtern, man hänselt sich gegenseitig, benutzt Kraftausdrücke und gelegentlich kommt es auch zu körperlichen Übergriffen (Mädchen werden z.B. ‚begrabscht‘. Solche Grenzüberschreitungen sind fast immer Ausdruck sexueller Neugierde, aber sie haben auch ein Gewaltpotential in sich und können verletzen. Deshalb ist der respektvolle Umgang zwischen den Geschlechtern in diesem Alter ein wichtiges Erziehungsthema. Im mittleren Schulalter nimmt auch das Interesse an Zeitschriften und anderen Medien, in denen Sexualität und Partnerschaft thematisiert werden, stark zu.

Für eine gesunde sexuelle Entwicklung der Kinder ist es notwendig, sie gut durch die psychosexuellen Entwicklungsphasen (nach Freud: Orale Phase, Anale Phase, Phallische/Ödipale Phase, Latenzphase, Genitale Phase) zu begleiten. Dies beginnt durch eine sichere Bindung im Säuglingsalter und endet in der Adoleszenz bis hin zum Loslösungsprozess. Die individuellen Bedürfnisse, die sich aus den einzelnen Phasen ergeben können, sollten von den Eltern und Erzieher*innen wahrgenommen und berücksichtigt werden.

Um sich adäquat entwickeln zu können, ist es von großer Bedeutung den ödipalen Konflikt lösen zu können. In dieser Phase begehrt das Kind den gegengeschlechtlichen Elternteil. Es geht auch darum, zu erkennen, dass es zwischen den Eltern/ Erwachsenen etwas gibt, woran man als Tochter oder Sohn nicht teilnimmt und ausgeschlossen wird, nämlich die sexuelle Beziehung zwischen den Eltern. Diesbezüglich ist es wichtig, wie die Eltern mit diesem Konflikt, und möglicherweise entstehenden Fantasien des Kindes, umgehen. Es handelt sich um einen Balanceakt zwischen Einfühlungsvermögen und Klarheit im Handeln.

Um Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung angemessen begleiten zu können und diesbezüglich auch altersgerechtes Sexualverhalten von nicht altersgerechtem Verhalten zu unterscheiden, brauchen Fachkräfte eine professionelle Haltung. Diese entwickelt sich allerdings nicht von selbst. Die Entwicklung einer sexualfreundlichen Haltung geschieht innerhalb eines strukturierten und längerfristigen Prozesses, in Zusammenarbeit mit der Leitung, dem Team und den Eltern. Auch Fachkräfte sind sexuelle Menschen und bringen ihre eigene Person und damit ihre ganz persönliche Einstellung zu Sexualität in die Arbeit mit den Kindern ein. Sie übertragen folglich automatisch einen Teil ihrer eigenen Sexualität auf die Kinder, mit denen sie zusammenarbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass Fachkräfte erst einmal auf individueller Ebene ihre eigene sexuelle Biografie und die Grundhaltung, die sie daraufhin entwickelt haben, reflektieren.

3. Fragen zum Weiterdenken

  • Wie könnte in Ihrer Einrichtung über Sexualität aufgeklärt werden? Wie können unterschiedlichen Altersgruppen entsprechend an das Thema herangeführt werden?
  • Wie kann in Ihrer Tages-/Wohngruppe Sexualität thematisiert und gelebt werden? Welche Freiräume gibt es und welche können Sie schaffen? Wie können Sie Schutzbedürfnisse sicherstellen und zugleich Erfahrungen ermöglichen?

4. Material / Links

https://www.familienhandbuch.de/babys-kinder/bildungsbereiche/sexualitaet/SexuelleundgeschlechtlicheVielfaltinKinderbuechern.php

https://www.bzga.de/infomaterialien/sexualaufklaerung/

Ilka Quindeau / Micha Brumlik (Hg.): : Kindliche Sexualität,. Juventa Verlag 2012

Dominik Mantey: Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung. Beltz Juventa Verlag 2020

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