Kinder verstehen
1. Beschreibung der Herausforderung
Kinder zu verstehen stellt für uns als Erwachsene und Fachkräfte häufig eine Herausforderung dar. Oftmals nehmen wir eine Situation nur subjektiv aus unserer Sicht wahr, vollziehen aber keinen Perspektivenwechsel, um begreifen zu können, wie ein Kind diese Situation wahrnimmt und was es in der Situation fühlt bzw. empfindet.
Kindern individuell gerecht zu werden und sie zeitgemäß zu erziehen, ist ohne Verstehen kaum möglich. Zugleich aber bleibt das Verstehen anderer Menschen immer begrenzt und unvollständig. Im Familienalltag, wie auch in Wohn- und Tagesgruppen sind Zeit, Bereitschaft und Kompetenzen des Verstehens oft nicht ausreichend vorhanden. Und auch die für das Verstehen so nötige Unvoreingenommenheit ist manchmal gering.
Verstehen kann in der professionellen pädagogischen Arbeit auch methodisch angeleitet vorgenommen werden. Dazu gibt es vielfältige Beobachtungskonzepte und -methoden; nicht zuletzt aus der Kindertageserziehung. Insbesondere Teams haben außerdem gegenüber Lehrer*innen oder Eltern zusätzliche Verstehensmöglichkeiten, da sie vielfältige Wahrnehmungen aus Beobachtungen miteinander austauschen können.
2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken
Dass man Kinder nur dann gezielt unterstützen und fördern kann, wenn man sie als Individuen sieht und versteht, war schon eine zentrale Botschaft der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So ging z.B. Maria Montessori davon aus, dass jedes Kind einen eigenen inneren Bauplan aufweist, dem es in seiner Entwicklung folgen muss.
Weitere wichtige Beiträge zum Verstehen von Kindern leistet seit ebenfalls mehr als hundert Jahren die Psychoanalyse durch die Untersuchung unbewusster Prozesse. Insbesondere die Bedeutung von Übertragungen und Gegenübertragungen für menschliche Interaktionen konnte die Psychoanalyse herausarbeiten. So kann man manches Verhalten von Kindern (und natürlich auch von Erwachsenen) besser verstehen, weil man weiß, dass in Interaktionen Reinszenierungen früherer Erlebnisse, Beziehungen und Konflikte geschehen, die man nicht ohne weiteres verstehen kann.
Auch aktuelle pädagogische und beraterische Konzepte leisten wertvolle Hilfe beim Verstehen kindlichen Verhaltens. So ist besonders die systemische Sicht hilfreich, um das Verstehen vom einzelnen Kind weg und auf die systemischen Zusammenhänge hin zu lenken. Aus dem schwierigen Kind wird mit systemischem Blick ein schwieriger kommunikativer Zusammenhang, den es zu erkennen und gemeinsam zu verändern gilt.
Im Alltag der pädagogischen Arbeit in Tages- und Wohngruppen genießt die Aufgabe des Verstehens von Kindern allerdings nicht immer oberste Priorität. Häufig wird einfach das Verhalten von Kindern bewertet und nicht ausreichend auf seine Hintergründe (Motive, Bedürfnisse etc.) geachtet. Die Idee, alle Kinder gleich zu behandeln, ist eine starke ‚Konkurrentin‘ der ebenso bedeutsamen Aufgabe, allen Kindern individuell gerecht zu werden. Wenn in der Gruppenpädagogik Regeln und Pläne ein zu hohes Gewicht erhalten, sinken Bedeutung und Chancen des Verstehens.
Aktuell spielt auf der Seite der ‚verstehenden Pädagogik‘ die Traumapädagogik in vielen Wohn- und Tagesgruppen eine wichtige Rolle. Gerade bei aggressiv zugespitzten Krisen und ‚Ausrastern‘ von Kindern hilft die Annahme des ‚guten Grundes‘, nicht vorschnell sanktionierend, sondern zuerst einmal deeskalierend und nach Gründen suchend tätig zu werden.
3. Fragen zum Weiterdenken
- Welche Rolle spielt das Verstehen von Kindern in Ihrer Arbeit? Gibt es gezielte und methodisch gestützte Beobachtungen von Kindern, über die Sie sich im Team austauschen?
- Wo sehen Sie die Grenzen des Verstehens in Ihrer Arbeit und wie könnten diese Grenzen ein Stück weiter verschoben werden?
4. Lösungsvorschläge
In einer akuten Krise ist es oft am Wichtigsten, präsent zu bleiben, nicht durchzudrehen und das Kind und die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Man sollte sich nicht scheuen, Hilfe zu holen, sowohl bei Kolleg*innen und anderen Diensten als auch bei Not- und Kriseneinrichtungen (medizinische Notdienste, Feuerwehr, Polizei, …).
In der akuten Krise geht es um die Annahme des Kindes, danach um die Aktivierung von Bewältigungsstrategien und das Finden einer Balance zwischen Aushalten und Bearbeiten der Krisensituation. Das Bearbeiten der Krisensituation erfordert die Einbeziehung des ganzen Teams und oft auch weiterer spezialisierter Fachkräfte.
Bei dem Dichter Hölderlin heißt es „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Insofern ist es auch wichtig, das Positive in bzw. an einer Krise gemeinsam zu suchen, zu sehen und aufzugreifen. Krisen machen oft neue Entwicklungen möglich.
5. Material/ Links
Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen. Kösel 2009
Erika Kazemi-Veisari: Kinder verstehen lernen: wie Beobachten zu Achtung führt. Kallmeyer 2004
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