Kinder sind anders – Kinder als Akteure
1. Beschreibung der Herausforderung
Im Erziehungsprozess sollen Kinder in ihren Kompetenzen, Ansprüchen und Interessen wahrgenommen werden. Die Kompetenzen der Kinder werden allerdings nach Einschätzung der Kindheitssoziologin Bühler-Niederberge oftmals unterschätzt. In der Erwachsenenperspektive wird das soziale Handeln der Kinder häufig als unreif und oft lediglich als ‚Spiel‘ gewertet. Jedoch leisten Kinder relevante Beiträge zur Gestaltung der sozialen Welt. Kinder sollten deshalb stärker als bisher als eigenständige Personen mit eigenem Willen, eigenen Wünschen und Vorstellungen betrachtet werden, die es zu fördern und respektieren gilt.
Es stellt sich die Frage, was es genau bedeutet, Kinder als gleichwertige Interaktionspartner*innen zu sehen, zu erkennen und zu achten. Man sollte sich jedenfalls von der Annahme verabschieden, die Kindheit als Vorstadium des (fertigen, vollkommenen) Erwachsenen zu verstehen und zu beschreiben. Kinder sollten stattdessen als ‚beings‘ und nicht als ‚becomings‘, also als Seiende und nicht als Werdende begriffen werden. Erwachsene sollten also Kinder als soziale Akteure und nicht als „unfertige“ Erwachsene betrachten.
2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken
Im Laufe der 1990er Jahre kristallisierte sich dieses neue Konzept der Kindheitssoziologie heraus, das sich auf den englischsprachigen Begriff der „Agency“ stützt. In diesem Konzept werden Kinder als ‚sozialer Akteure‘ thematisiert, die einen eigenständigen, aktiven Beitrag bei der Gestaltung ihrer sozialen Umwelt und der Gesellschaft leisten. Nach dem Agency-Konzept sind Kinder eine eigenständige gesellschaftliche Gruppe mit eigenen Interessen und Bedarfen. Sie sollten daher stärker als bisher als Personen mit eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Bewältigungspotenzialen respektiert werden.
Das Konzept beschreibt die Kindheit als eine eigenständige Lebensphase. Kinder sind nicht mehr nur Entwicklungswesen, d.h. Menschen in Vorbereitung, sondern Akteure, die bereits handlungsfähig sind. Konkret können Kinder als soziale Akteure auf ihr eigenes Leben, auf andere Menschen und die Welt um sie herum Einfluss nehmen. Das Akteurskonzept sieht Kinder nicht nur als Ko-Konstrukteure ihrer eigenen Entwicklung an, sondern gesteht ihnen eine Rolle bei der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihrer Lebensräume, ihrer Gemeinschaft und der Gesellschaft zu. Die Verbreitung und Akzeptanz des Konzeptes ‘Agency‘ führt zu gesellschaftspolitischen Kontroversen. Es fällt auf, dass Kinder nur so viel ‚Agency‘ entwickeln können, wie ihnen dies durch Strukturen, Institutionen und Erwachsene zugestanden und ermöglicht wird.
Nimmt man das ‚Agency-Konzept‘ als gegeben an, geraten demzufolge Ungleichheiten, Ordnungen und Strukturen, die das Leben von Kindern prägen, in den Blick. Unterschiedliche Studien zeigen, dass die Kindheit in Deutschland von großen Ungleichheiten geprägt ist. Für Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten lassen sich Unterschiede konstatieren, was die Kompetenzen betrifft, die sie erwerben, was die Bildungsbarrieren betrifft, aber auch was ihre Freizeit betrifft. Diese Ungleichheiten sollten im Hinblick auf das „Agency“ -Konzept berücksichtigt werden. Forschungen zeigen, wie wenig die Kinder bisher zur Realisierung eigener Wünsche und Planungen ermächtigt werden. Letztendlich stellt sich die Frage, in welchen Strukturen Kinder die Möglichkeit haben, sich angemessen zu äußern, gehört zu werden und die Welt mitzugestalten.
Dass Kinder sich in spezifische soziale Ordnungen einfinden und die notwendigen Leistungen erbringen, damit Familien oder auch soziale Einrichtungen wie Tages- und Wohngruppen funktionieren können, weist Kinder als „soziale Alleskönner“ aus. Das heißt, dass sie die Anforderungen von sozialen Situationen rasch begreifen und sie begreifen auch, dass in einem anderen Zusammenhang ganz andere Regeln gelten können. Sie tun das nicht, weil sie die Regeln bräuchten, sie tun es, weil sie es können. Alleskönner können auf verschiedenen Bühnen tanzen.
Durch die enorme Anpassungsfähigkeit von Kindern lässt sich letztlich auch erklären, warum Kinder sich in der Regel auch in erzieherischen Settings einfügen, die ihnen ganz klar einen Platz als Kind – d.h. mit relativ wenig Rechten und Freiheiten – zuweisen. Das ist die Kehrseite ihrer Agency, dass sie selten gezielte Reformbestrebungen bzw. Revolutionen anzetteln und ihre Kompetenzen nicht immer so zeigen, dass Erwachsene sie auch wahrnehmen und anerkennen.
3. Fragen zum Weiterdenken
- Wie selbstbestimmt können Kinder die vorhandenen Räumlichkeiten, Strukturen und Regeln nutzen und mitgestalten? Welche Möglichkeiten der Partizipation werden Kindern in unterschiedlichen Kontexten ‘zugestanden‘, welche nicht und wie wird dies begründet?
- Wo sehen Sie die Gefahren, Risiken und Grenzen von Agency – Konzepten?
- Wie kann andererseits die Akteurschaft von Kindern in pädagogischen Intuitionen gefördert und ermöglicht werden?
- Kann es passieren, dass Fachkräfte sich hinter dem modernen Agency – Konzept verstecken; d.h. dass sie den Kindern Stärken und Gleichberechtigung zusprechen und dabei übersehen, welche Entwicklungsherausforderungen noch vor den Kindern liegen und welche Förderung sie eigentlich benötigen? Fallen Ihnen solche Situationen bzw. Konflikte ein, in denen letztlich Erziehung durch die Erwachsenen verweigert wurde?
4. Material / Links
Doris Bühler-Niederberger (2020): Lebensphase Kindheit. Beltz Juventa