Kinder in der Demokratie
1. Beschreibung der Herausforderung
Kinder verfügen in der demokratischen Gesellschaft noch nicht über vollständige staatsbürgerliche Rechte. Sie dürfen nicht wählen und nicht gewählt werden – auch wenn sie sich sehr für politische Themen interessieren und in Wahlen über ihre zukünftigen Lebenschancen und -Bedingungen entschieden wird.
Sie haben auch nicht das Recht, zu entscheiden, welche Kita und welche Schule sie besuchen wollen, ob sie bei einer Trennung bei Mutter oder Vater leben – immerhin müssen sie diesbezüglich gehört werden. Insofern kann man sagen, dass Kindern in der Demokratie ohne guten Grund Teilnahme- und Teilhaberechte nicht vollumfänglich zugestanden werden.
In einer Demokratie darf das Recht auf Partizipation aber eigentlich keine Frage des Alters sein. Dies sieht auch das deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetz so und formuliert deshalb in § 8, dass alle Kinder und Jugendlichen entsprechend ihrem Alter und Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden müssen. Auch in der Hilfeplanung nach § 36 KJHG ist rechtlich garantiert, dass Kinder und Jugendliche im Planungs- und Entscheidungsprozess über eine Hilfe zur Erziehung beteiligt werden müssen.
Kinder lernen schon früh Regeln, Mitbestimmung, Verantwortungsbewusstsein und soziale Teilhabe. Als erster Lernort außerhalb der Familie ist es die Aufgabe der Kindertagesstätte, den Kindern eine Vorbereitung auf das Zusammenleben in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft zu bieten. Hier können Kinder wahrnehmen, dass ihre Stimme gehört und ihre Rechte respektiert werden. Daher sollten Kinderrechte, demokratische Bildung und Partizipation in der Kita Teilhabe unverzichtbare Bestandteile im pädagogischen Alltag sein.
Auch in Tages- und Wohngruppen sollten Kinder demokratische Erfahrungen machen können. Partizipation sollte täglich erlebt und erfahren werden und Kinder sollten merken, dass sie gehört werden und Wahl- sowie Beschwerdemöglichkeiten existieren. Auch demokratische Verfahren (z.B. Wahlen) und Gremien (z.B. Gruppenrat) sind wichtige Standards in demokratischen Organisationen. Nicht zu vergessen ist die Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Themen durch Gespräche, Bildungsangebote und den Besuch von politischen Veranstaltungen vor Ort.
2. Unterschiedliche fachliche Argumente / Bedenken
Kindern und Jugendlichen sollte bereits im frühen Alter die Möglichkeit gegeben werden eine politische Persönlichkeit zu entwickeln. Dazu gehört die Haltung, sich zuständig zu fühlen für die eigenen Belange und die der Gemeinschaft, und die Kompetenz, sich konstruktiv streiten zu können, also eigene Interessen zu vertreten, sich in andere hineinversetzen und es aushalten zu können, wenn man sich einmal nicht durchsetzen kann.
Kinder erwerben demokratische Fähigkeiten, indem sie an der Gestaltung des täglichen Lebens in Familie und Wohngruppe teilnehmen und nach ihrem Entwicklungsstand einbezogen werden. Dadurch kommen im pädagogischen Alltag häufig Fragen auf wie: Was kann ich Kindern zutrauen? Wo hört die Beteiligung der Kinder auf? Diese Fragen sollten in den Teams und mit den Familien diskutiert werden.
Kinder lernen Demokratie, wenn sie ihre Lebenswelt gestalten und mitbestimmen, in ihrer Eigenverantwortlichkeit gestärkt werden, ihre Gemeinschaftsfähigkeit entwickeln, konstruktiv Konflikte lösen und so Selbstwirksamkeit erfahren. Um Kindern diese Chance zu geben, ist es wichtig, Grundwerte demokratischer Kultur in Tages- und Wohngruppen zu integrieren, Alltagssituationen zu beleuchten und detailliert zu hinterfragen. Durch kollegialen fachlichen Austausch und in der Diskussion von Fragen der Mitbestimmung und Partizipation von Kindern erhalten Pädagoginnen und Pädagogen die Chance, ihre persönliche Haltung zu reflektieren und durch mehr Demokratie den Gruppenalltag zu bereichern.
Aus kritischer Perspektive wird oft thematisiert, wie man damit umgehen kann, dass Erziehung und Demokratie zwar einerseits gut zusammen passen, sie sich aber andererseits auch widersprüchlich zueinander verhalten. Welche pädagogischen Entscheidungen, Abläufe und Strukturen sollten also demzufolge von demokratischer Mitbestimmung der Kinder ausgeschlossen werden? Sollen Kinder bspw. mitentscheiden bei Personaleinstellungen, Programmen und Strukturen des Lebens in Wohn- und Tagesgruppen? Können Kinder sich gegen das gemeinsame Essen, die Teilnahme an einer Therapiesitzung oder einen Ausflug mit der Gruppe entscheiden?
Mit diesem Konflikt- und Spannungsfeld muss man heute fachlich qualifiziert umgehen. Ohne Partizipation ist moderne Erziehung undenkbar – aber ohne Grenzen der Selbstbestimmung und Mitentscheidung ist auch keine pädagogische Arbeit möglich. Der Clou liegt wohl darin, dass alles hinterfragt und thematisiert werden darf – auch die Grenzen der Mitbestimmung. Im Normalfall und gerade außerhalb aktueller emotionaler Konflikte sind Kinder und Erwachsene zu weisen Entscheidungen in der Lage. Nur wenn das nicht der Fall ist, müssen Erwachsene die Grenzen der Partizipation thematisieren und verantworten. Das ist in guten demokratischen Einrichtungen erfahrungsgemäß sehr selten …
3. Fragen zum Weiterdenken
- Wie kann man eine Tages- /Wohngruppe zur mustergültigen Demokratiegruppe weiterentwickeln? Welche Elemente gehören dazu, wie kann man eine demokratische Kultur befördern und welche Schritte sollte man konkret gehen?
- Welche pädagogischen Grundorientierungen in Ihrem Team passen zur Idee der Demokratie und welche verhalten sich auch widersprüchlich? Wie können Sie damit umgehen?
4. Material/ Links
Abendschön S., Vollmar M. (2007): Kinder, Politik und die Zukunft der Demokratie: Können Kinder ‚Demokratie leben lernen‘?. VS Verlag für Sozialwissenschaften
van Deth J.W. (2010): Kinder und Demokratie: Eine unterschätzte Beziehung. VS Verlag für Sozialwissenschaften
Dobrecht, Marita (2016): Demokratie in Kinderschuhen. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag
Website:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Demokratische Bildung fördern https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/ministerium/berichte-der-bundesregierung/kinder-und-jugendbericht (2021)
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