Interkulturelles Lernen

Interkulturelles Lernen ist der Weg zum Erwerb und zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz. Der interkulturelle Lernprozess ist als dynamisch zu verstehen und basiert auf Differenzerfahrungen von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘. In dem Prozess geht es einerseits um die Überwindung des eigenen Ethnozentrismus und den Aufbau einer kritischen Distanz zur eigenen Kultur und Kulturgebundenheit. Andererseits geht es um den bewussten Umgang mit und die Reflexion von bestehenden Vorurteilen und Stereotypen sowie um das Bewusstsein für andere Kulturen. Grosch und Leenen (1998) haben ein Phasen-Modell des interkulturellen Lernens entwickelt, um zu zeigen, wie der Prozess verlaufen kann. Das Modell dient dazu, gewisse Entwicklungsschritte zu erkennen und daran zu arbeiten. Das Modell ist als Beginn einer Kette von sich wiederholenden Lernerfahrungen zu verstehen. Die Phasen sind aufeinander aufbauend, sodass Phase 1 beendet werden muss, um in die anderen Phasen zu gelangen. Die erste Phase beginnt bei dem Lernenden selbst, um dann schrittweise das Verständnis und die Akzeptanz für das Fremde zu entwickeln.

1. Ziele 

Das Modell dient dazu, in der interkulturellen Kommunikation angemessen zu handeln. Das Individuum hat die Möglichkeit, sich mit anderen kulturellen Vorstellungen zu beschäftigen, um diese zu verstehen. Außerdem hilft das Modell dabei, den Ethnozentrismus zu überwinden. Das Individuum soll also lernen, dass jede Kultur anders ist, aber auch die einzelnen Menschen in Kulturen sich stark voneinander unterscheiden. Das nächste Ziel ist, Toleranz, Akzeptanz und Empathie gegenüber anderen Kulturen zu entwickeln. Das Individuum soll andere Menschen akzeptieren, auch wenn sie anders sind. Außerdem hilft das Modelldabei, Vorurteile gegenüber anderen Kulturen abzubauen

2. So geht das

Phase 1:
Die generelle Kulturgebundenheit menschlichen Verhaltens erkennen und akzeptieren können. Das bedeutet, dass kulturelle Eigenheiten und Wünsche eines Menschen akzeptiert und erkannt werden, auch wenn diese einem selbst nicht gefallen. 

Phase 2:
In dieser Phase werden fremdkulturelle Muster als fremd wahrgenommen, ohne sie positiv oder negativ zu bewerten.

Phase 3:
Eigene Kulturstandards werden identifiziert und ihre Wirkung wird in der Begegnung mit einer Fremdkultur abgeschätzt. In dieser Phase kann eine Person die eigenen Kulturstandards erkennen und die sich vermutlich entfaltende Wirkung auf das Gegenüber schätzen.

Phase 4:
Eine Person hinterfragt in dieser Phase, wieso etwas in der anderen Kultur so ist, wie es ist. Hierdurch kann die Person einen größeren Zusammenhang erkennen, um die andere Kultur besser zu verstehen. Weitergehende Sinnzusammenhänge können hergestellt werden.

Phase 5:
In dieser Phase wird Verständnis und Respekt für fremdkulturelle Muster gezeigt. Das Individuum entwickelt hier Verständnis und Respekt für Muster, die eine Person aufgrund ihrer anderen Kultur besitzt. Das können beispielsweise unterschiedliche Muster in der Kommunikation oder dem Handeln sein.

Phase 6:
Das Individuum übernimmt in dieser Phase selektiv fremde Kulturstandards oder wählt je nach Situation unterschiedliche Optionen aus, um die Ziele der interkulturellen Kommunikation zu erreichen. Folgende eigene kulturelle Optionen werden erweitert: mit kulturellen Regeln flexibel umgehen können und zwischen kulturellen Optionen situationsadäquat und begründet wählen können.

Phase 7:
In dieser Phase ist das Individuum in der Lage, konstruktiv und situationsbedingt während einer interkulturellen Kommunikation zu reagieren, sodass eine befriedigende Beziehung aufgebaut werden kann. Ebenfalls kann die Person mit Konflikten umgehen und diese lösen. 

3. Beispiel

Die Herausforderung interkulturellen Lernens stellt sich in der Wohn- und Tagesgruppe, wenn dort Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gemeinsam leben und betreut werden. Es ist vielfältig möglich, kulturgebundene Unterschiede im Alltag zu identifizieren und interkulturelle Lernprozesse nach diesem Muster zu planen und zu gestalten. Dies kann sich auf Alltagsthemen wie Kochen oder Freizeitgestaltung beziehen oder auch auf unterschiedliche Feste, Rituale, Tagesabläufe.

4. Fragen, Kritik und Anpassungsmöglichkeiten

Konkrete Methoden, wie genau die Phasen durchlaufen werden können, liegen dem Modell von Grosch und Leenen nicht bei. Klar ist, dass die Fachkräfte in Wohn- und Tagesgruppen strukturierte Erfahrungen anbieten müssen, durch die der Einfluss auf die eigenen kulturellen Prägungen, auf Wahrnehmungen, Situationseinschätzungen und Verhaltensweisen bewusst wird.

In der modernen Migrationspädagogik wird mittlerweile vor einer zu starken Fokussierung bzw. einer zu engen Betrachtung von Kultur gewarnt. Der französische Philosoph Francois Jullien bringt diese Skepsis mit seinem Buchtitel „Es gibt keine kulturelle Identität“ auf den Punkt. Wir alle sind als Menschen mehr und anders als die Kultur aus der wir stammen. Wir haben alle Möglichkeiten unsere Kultur zu erweitern, zu ignorieren oder uns anderweitig zu entwickeln. Insofern dürfen kulturelle Praktiken im interkulturellen Dialog nicht als absolut und unhinterfragbar betrachtet werden.

Bitte überlegen Sie doch, wie man das Stufenmodell des interkulturellen Lernens in Wohn – und Tagesgruppen umsetzen kann. Welche Herausforderungen sehen Sie in der Praxis?

Ein Konzept des interkulturellen Lernens macht es zunächst notwendig, bei den Individuen Aufmerksamkeit für ‚Fremdes‘, für andere kulturelle Kontexte zu erzeugen. Aus dieser Aufmerksamkeit, resultiert im Prozess des interkulturellen Lernens die Fähigkeit, Verständnis für andere Kulturen zu entwickeln.

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