Genetisches Entwicklungsmodell (Piaget)

Jean Piaget lebte von 1896 bis 1980 und war ein Schweizer Biologe; er wird als „Übervater der Entwicklungspsychologie“ bezeichnet. Er arbeitete mit standardisierten Intelligenztests und erkannte dabei, dass jüngere Kinder immer wieder Fehler machen, die ältere Kinder nicht (mehr) machen. Piaget kam zu dem Schluss, dass diese anders denken und begann die intellektuelle Entwicklung von Kindern zu studieren.

1. Ziele 

Das genetische Entwicklungsmodell kann Fachkräfte und Eltern darüber aufklären, wie Denkprozesse und die Entwicklung kognitiver Strukturen bei Kindern ablaufen, um besser auf diese einzugehen.

2. So geht das

Piaget ist davon ausgegangen, dass wir unser Wissen in sogenannten Schemata abspeichern. Ein Synonym für den Begriff des Schemas ist „Schublade“. Wenn ein Kind das erste Mal auf einen Hund trifft, bildet es das Schema / die Schublade „Hund“ nachdem es ihm beim Kennenlernen bestimmte Eigenschaften zugeordnet hat. Wenn das Wissen des Schemas abgerufen werden soll (die Schublade geöffnet) sind darin gesammelt die Informationen dazu, wie der Hund aussieht und wie er sich verhält. Beispielsweise der Hund macht „wau-wau“, hat vier Beine und Fell.

Schemata können auf neue, ähnliche Situationen und Fälle angewendet aber auch abgeändert werden. Das Anwenden des Wissens bezeichnet Piaget als Assimilation, das Umändern bzw. neu schaffen als Akkommodation. Die Assimilation läuft wie folgt ab: Wenn ein Kind, welches das Schema „Hund“ bereits gebildet hat, ein Tier mit vier Beinen sieht, welches „wau-wau“ macht, kann es das Schema anwenden und weiß, dass es sich bei dem Tier um einen Hund handelt. Wenn dasselbe Kind zum ersten Mal eine Kuh sieht, ist es möglich, dass es das Schema „Hund“ auch auf die Kuh anwendet. Sobald dieses Kind dann darüber belehrt wird, dass es sich bei dem Tier um eine Kuh handelt, muss das Schema sich verändern (Akkumulation). Ein neues Schema (Schema „Kuh“) wird mit den vorhandenen Informationen erstellt. Unter Akkumulation fällt ebenfalls, wenn das bereits vorhandene Schema abgeändert wird. Wenn ein Kind bisher nur auf große Hunde getroffen ist, wird „groß“ ein Bestandteil des Schemas Hund sein – sobald das Kind auf einen kleinen Hund trifft und diesen auch als Hund wahrnimmt, kann das Schema Hund mit der Information „kann groß und klein sein“ angepasst werden.

Assimilation und Akkommodation sollten etwa im Gleichgewicht sein, das nennt man Äquilibration. Kinder sollten nicht für jede Birne und jeden Apfel ein neues Schema bilden, dort reicht ein „oberflächliches“ Wissen im Regelfall aus. Jedoch ist es auch falsch, alles, was einem Apfel ähnlich ist, als Apfel zu assimilieren, dann wäre es nicht möglich, Birnen und Äpfel voneinander zu unterscheiden.

Piaget unterteilt die Entwicklung in 4 Stadien, die in einem Stufenmodell aufeinander aufbauen:

  • Stadium der sensomotorischen Intelligenz (0-2 Jahren)

Im Alter von 0 bis 2 Jahren verfügt der Säugling zunächst nur über einige angeborene Reflexe. Er lernt dann vor allem durch die Beschäftigung mit all seinen Sinnen, Beobachtung und Handlungen. Jeder Gegenstand, den Babys in den Händen halten, weckt daher ganz automatisch die Neugier und wird befühlt, mit der Zunge analysiert und später auch betrachtet.

Mit etwa 12 Monaten erkennt das Baby, dass Dinge auch da sind, wenn es sie nicht sieht („Objektpermanenz“). Durch die Entwicklung des Gedächtnisses sind Kinder zunehmend in der Lage, Veränderungen im Raum wahrzunehmen.

  • Stadium der präoperationalen Intelligenz (2-7 Jahren)

In dieser Phase eignet sich das Kleinkind die Sprache an (durch den Erwerb der Sprachfähigkeit wächst der Lernfortschritt in sämtlichen Bereichen rasant). Außerdem gehen Kinder noch davon aus, dass andere Menschen die Welt genau wie sie selbst sehen. Zusätzlich sind sie unglaublich neugierig; alles wird hinterfragt und ‚untersucht‘.

Später folgt die Stufe des anschaulichen Denkens. Das Denken erfolgt weiterhin in Vorstellungen bzw. inneren Bildern. Dabei ordnen Kinder die vielen Eindrücke und Ereignisse, indem sie nach Zusammenhängen und Kausalbeziehungen ‚suchen‘. Gegen Ende der Phase wird der frühkindliche Egozentrismus überwunden. 

  • Stadium der konkret-operationalen Intelligenz (7-11 Jahre)

Logisches Denken spielt in der präoperationalen Phase noch keine Rolle. Im Alter zwischen 7 und 11 Jahren entdecken Kinder allerdings zunehmend logische Zusammenhänge. Das Denken ist weiterhin an anschauliche, erfahrbare Inhalte gebunden. Es werden aber nun verschiedene Merkmale eines Gegenstandes und Vorgangs gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Die meisten Kinder ordnen Stifte nach Farben, sortieren sie nach einer bestimmten Größe oder beginnen mit der eigenständigen Organisation ihrer Schulhefte.

Mit Beginn des logischen Denkens ist auch die Fähigkeit verbunden, dass Dinge auf verschiedene Arten betrachtet werden können. Kinder sind zunehmend in der Lage, vorauszudenken, ihr Handeln reflektierend zu steuern, räumlich zu denken und logische Schlussfolgerungen über Phänomene aufzustellen, die physische Objekte betreffen. Ist beispielsweise eine Seite eines Würfels nicht sichtbar, steht dennoch fest, welche Ziffer sich dort befindet.

Die Gedanken und Gefühle anderer Menschen können zunehmend nachvollzogen werden. Das Einfühlungsvermögen verbessert sich und Kinder sind in der Lage, zu verstehen, dass ihre Sicht auf die Dinge nicht die einzige der Welt ist.

  • Stadium der formal-operationalen Intelligenz (ab 11 Jahren)

Mit dem Erreichen der höchsten Entwicklungsstufe nach Piaget besitzen Kinder alle Fähigkeiten, um die Umwelt zu erfassen. Nun können Kinder mit abstrakten Inhalten wie Hypothesen gedanklich umgehen, Probleme theoretisch analysieren und (wissenschaftliche) Fragestellungen systematisch durchdenken.

Zunehmend entwickelt sich die eigene Identität und Kinder beginnen damit, Dinge im Hinblick auf die Wichtigkeit für ihr eigenes Leben zu kategorisieren. Auch wenn die mentalen Fähigkeiten nun ausreichend sind, um tiefe Gefühle zu empfinden und nachvollziehen zu können, so bedarf es dennoch einer Menge an Erfahrungen, um daran zu wachsen.

Deutlich wird, wie sich das Denken immer mehr von der Wahrnehmung, der Anschauung und dem Handeln löst, also zunehmend „abstrakter“ wird. Oder anders gesagt: Zunächst stehen Objekte und deren Charakteristika (insbesondere ihr Verhalten, wenn man mit ihnen handelnd umgeht) im Mittelpunkt des Denkens und später abstrakte, rationale, logisch-mathematische Optionen.  

3. Beispiel

Bereits mit Kindern im Alter von 7-11 Jahren, kann man in Kooperation Verhaltensregeln aufstellen und besprechen. Während dieser Altersspanne befinden sich Kinder sind bereits im Stadium der konkret-operationalen Intelligenz. Und sie sind in der Lage logische Zusammenhänge zu erkennen, Dinge auf verschiedene Weisen zu betrachten, vorauszudenken und ihr Handeln zu reflektieren.

4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten und Kritik

In weiterführenden Forschungen gab es vor allem Variationen in der zeitlichen Beschreibung der Entwicklungsstufen. Besonders neuere Forschungen zeigen, dass bei kindgerechter Aufarbeitung der Aufgaben gewisse Fähigkeiten früher erreicht werden, als Piagets Stufenmodell es vorsieht. So können auch mit jüngeren Kindern gemeinsam Regeln des Zusammenlebens erarbeitet werden, wenn diese anschaulich gemacht und einfach erklärt werden.

Ebenso kann kritisiert werden, dass den kognitiven Aspekten der menschlichen Entwicklung starke Betrachtung geschenkt wird und die Entwicklung der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Fragestellung danach, ob es einen Abschluss der geistigen Entwicklung gibt und ob dieser von allen erreicht wird. Vielfach entwickeln sich Wissen und bereichsspezifische Expertise zum Lösen von Problemen in einem komplizierten Fachgebiet erst später. Piagets Stufenmodell untersucht die weitere Entwicklung nicht.

Piagets Arbeit ist sehr stark auf bestimmte erkenntnis- und wissenschaftstheoretische (besonders mathematisch-logische und physikalische) Problemstellungen konzentriert, die nur einen Bereich der geistigen Entwicklung ausmachen und grenzt somit mögliche weitere Stufen aus. Piaget vernachlässigt, dass es individuelle Unterschiede hinsichtlich des Tempos, der Entwicklung und Anwendung bereits entwickelter Strukturen gibt. Er selbst hat zwar von „Unterscheiden in der Geschwindigkeit der Entwicklungen“ gesprochen, diese jedoch nie weiter erklärt oder erforscht. Sein Modell basiert auf der Annahme, dass es für jede Entwicklungsstufe typische Strukturen gibt.

Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist, dass die Entwicklung lediglich beschrieben, es jedoch nicht erklärt wird, warum ein Kind bis zu einem Alter beispielsweise noch keine Objektpermanenz besitzt. Trotz allem bleibt zu betonen, dass sich die grundlegenden Annahmen Piagets bis zur heutigen Zeit als richtig herausgestellt haben und für den entwicklungspsychologischen Bereich eine große Bereicherung darstellen.

5. Material/ Links

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