Das Radikalisierungsmodell
nach Fathali Moghaddam
Bevor man sich mit dem Radikalisierungsmodell nach Fathali Moghaddam auseinandersetzen kann, muss erst der sehr häufig verwendete, aber schwer definierbare Begriff der Radikalisierung geklärt werden. Vorweg sollte erwähnt werden, dass es keine einheitliche Definition für den Begriff der Radikalisierung gibt. Je nach Profession und wissenschaftlichem Diskurs existiert eine Fülle von unterschiedlichen Definitionen. Eine der am weitesten verbreiteten Definitionen von Radikalisierung ist die des Bundeskriminalamtes:
“Radikalisierung ist die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel, bis hin zur Anwendung von Gewalt, zu befürworten, zu unterstützen und/oder einzusetzen.”
Diese Definition hat, trotz ihrer großen Verbreitung, jedoch keine Allgemeingültigkeit. Der Begriff Radikalisierung muss sich auch nicht nur auf einzelne Individuen beziehen. Radikalisieren können sich auch Gruppen, Institutionen oder ganze Gesellschaften. Die Gründe für eine Radikalisierung sind genauso vielfältig und individuell wie die Definition des Radikalisierungsbegriffes oder der Radikalisierungsprozesse. Meistens handelt es sich um ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Diese können individueller, gesellschaftlicher oder sozialer Natur sein. Ein Versuch, diesen Radikalisierungsprozess greifbarer zu machen, stammt von Fathali Moghaddam. Sein Radikalisierungsmodell wird im Folgenden erläutert.
1. Ziele
Das Radikalisierungsmodell von Fathali Moghaddam stellt Radikalisierung in Form eines Treppenhauses dar. Es geht davon aus, dass es sich bei Radikalisierung um einen Prozess handelt. Mit Hilfe des Modells sollen die grundlegenden Phasen identifiziert und beschrieben werden, sodass eine Einschätzung des Radikalisierungsgrades ermöglicht werden kann. Dies ist besonders hilfreich für Fachkräfte in Beratungssettings. Des Weiteren kann durch die Verbildlichung ein besseres Verständnis für das Thema Radikalisierung und dessen Verlauf geschaffen werden.
Wichtig zu erwähnen ist, dass Radikalisierungsprozesse individuell sehr unterschiedlich verlaufen können. Moghaddams Modell bietet eine Möglichkeit, wie dieser Prozess ablaufen könnte. Dies bedeutet aber nicht, dass Radikalisierung nicht auch auf andere Weise geschehen kann.
2. So geht das
Moghaddam wählt für die Verbildlichung seines Radikalisierungsmodelles das Bild eines Treppenhauses. In seiner Vorstellung besitzt dieses Treppenhaus 6 Etagen, die unterschiedliche Grade der Radikalisierung verdeutlichen. Im Folgenden werden die Stockwerke nacheinander vorgestellt und mit ihren besonderen Merkmalen beschrieben. Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich die Gesellschaft. Alle Mitglieder haben eigene Lebensbedingungen und Voraussetzungen, mit denen sie umgehen müssen. Ihre individuelle Ausgangssituation bewerten die Mitglieder selbst nach dem Grad ihrer empfundenen Gerechtigkeit. Empfinden Personen ihre Lebensumstände als fair, werden sie auf dieser Stufe bleiben und kein Stockwerk weiter aufsteigen. Hadern sie jedoch mit ihren Voraussetzungen und empfinden diese als ungerecht, steigen sie ein Stockwerk weiter auf. Diese Phase steht also unter den Überschriften ‚materielle Bedingungen‘ und ‚eigenes Empfinden‘.
Im ersten Stock geht es dann darum, dass die Individuen, welche sich in ihren Lebensumständen unfair behandelt fühlen, nach möglichen Lösungs- und Verbesserungsmöglichkeiten für ihre Situation suchen. Finden sie Wege, um ihre Situation zu verbessern, bewegen sie sich wieder ein Stockwerk nach unten. Sehen sie jedoch keine Möglichkeiten, um ihre ungerechten Bedingungen aufzulösen, steigen sie im Treppenhaus ein Stockwerk weiter auf. Dieses Stockwerk behandelt also besonders die Möglichkeiten, die dem Individuum gegeben sind, um sich aus seiner Position zu befreien. Bis hierhin sind die Stockwerke noch frei von Aggression.
Dies ändert sich jedoch im zweiten Stockwerk. Wenn die Probleme und unfairen Lebensbedingungen nicht gelöst werden können, entsteht große Verbitterung bei dem betroffenen Individuum. Diese Frustration führt dazu, dass sich die unzufriedene Person auf die Suche nach einer*m Schuldigen begibt. Die Frustration und Aggression verschiebt sich damit weg vom Individuum auf ein Feindbild. Findet dieser Prozess der Bestimmung eines Feindes statt, wandert die Person ein weiteres Stockwerk nach oben.
Im dritten Stockwerk findet dann die sogenannte Bindung an eine moralische Vorstellung statt. Dies geschieht meistens dadurch, dass sich das Individuum mit einer bestimmten Gruppe identifiziert und sich dieser anschließt. Diese gewählte Gruppe setzt sich für die Art von Gerechtigkeit ein, die das Individuum in seiner Lebenssituation vermisst. Die ausgewählte Gruppe wird nun mit vollem Einsatz unterstützt und die Identität des Individuums wandelt sich zu einer Identität als Gruppenmitglied. Ist dieser Fall eingetreten, wandert das Individuum ein Stockwerk weiter nach oben.
Im vorletzten Stockwerk des Treppenhauses verstärkt sich die ‚Wir gegen die Anderen‘- Haltung. Mit Hilfe von Isolationstaktiken und dem Loslösen von wichtigen Bezugspersonen aus dem alten Leben wird das Individuum weiter in die Denk- und Handlungsweisen der Gruppe gezogen. Die Gruppe untermauert dabei immer stärker ihren alleingültigen Anspruch. Wird dieses Denken unreflektiert übernommen und in die eigene Denkweise eingebaut, wandert das Individuum ein letztes Stockwerk nach oben.
Der fünfte und letzte Stock bildet die letzte Stufe in Moghaddams Radikalisierungsmodell. Individuen, die sich an diesem Punkt befinden, haben das Denken und die Haltung der Gruppe komplett übernommen und sich auch für ein gewisses Feindbild entschieden. Sind sie in diesem Stockwerk angekommen, haben sie alle Bedenken und moralischen Vorbehalte abgelegt und stellen sich offen gegen ihr vorher gewähltes Feindbild. Sie haben keine Skrupel mehr, Gesetze zu brechen und Gewalttaten zu begehen. Die Individuen haben sich damit meist auch terroristischen Handlungen verschrieben, da sie darin den einzig möglichen Weg sehen, um ihr Feindbild zu bekämpfen und ihnen zustehende Gerechtigkeit zu erlangen. Eine Hemmschwelle ist nicht mehr vorhanden und jegliche Straftaten, im Zusammenhang mit der Auslöschung des Feindes, werden als durch die Gruppe und die bestehende Ungerechtigkeit als legitimiert angesehen.
Mit der Erreichung des fünften Stockwerks endet das Radikalisierungsmodell Moghaddams. Anhand dieses Modells ist es möglich, Menschen in die verschiedenen Stufen der Radikalisierung einzuordnen. Dieser Umstand bietet dann wiederum Anknüpfungspunkte, anhand derer Präventionsmaßnahmen und Hilfsmöglichkeiten, sowie Aussteigerprogramme angeboten werden können. Je nach Fortschritt des Radikalisierungsgrades müssen unterschiedliche Maßnahmen ergriffen werden, um den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld zu helfen und Interventionen durchführen zu können. Das Modell von Moghaddam schlägt in diesem Zusammenhang für die unterschiedlichen Stockwerke verschiedene Maßnahmen vor. So sieht er das Erdgeschoss und den ersten Stock besonders im Bereich der Präventionsarbeit, die sich mit den Ressourcen und Stärken der Betroffenen auseinandersetzt. Mit Blick auf die bestimmenden Themen in diesen beiden Stockwerken, macht hier eine ressourcenorientierte Arbeit besonders viel Sinn. Anders sieht es in den Stockwerken zwei und drei aus. Hier werden sozialpädagogische Interventionen als geeignete Handlungsweisen vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang soll besonders die Bindung an eine Gruppe und die Suche nach einem Schuldigen unterbunden werden. Dafür stehen den Fachkräften eine Vielzahl von sozialpädagogischen und systemischen Interventionen zur Verfügung, welche sie individuell auf den Einzelfall anpassen müssen. Für die letzten beiden Stockwerke ist dann jedoch keine sozialpädagogische Intervention oder Prävention mehr vorgesehen. An dieser Stelle betrachtet Moghaddam die Radikalisierung als so weit fortgeschritten, dass die Fachkräfte die Sicherheitsbehörden einschalten sollten.
Abschließend lässt sich aus diesem Modell entnehmen, dass Radikalisierung ein Prozess ist, der zwar individuell abläuft, sich aber auch in diesen Phasen wiederfinden kann. Es ist vom jeweiligen Individuum und dessen Lebensbedingungen abhängig, ob und wie weit es sich radikalisiert. Dies bedeutet aber auch, dass sich in jedem Stockwerk eine neue Chance für das Individuum bietet, auszusteigen oder sich Hilfe zu holen. So haben Betroffene entweder die Möglichkeit, das Treppenhaus ganz zu verlassen, oder zumindest Stockwerke wieder hinab zu klettern. Dies hat damit zu tun, dass das Individuum als aktiv am Prozess beteiligt wahrgenommen wird. Dieser aktive Subjektstatus ist ausschlaggebend für die oben bereits aufgezählten Maßnahmen.
Besonders in der Arbeit mit jungen Menschen ist es wichtig, das Thema Radikalisierung anzusprechen. Diese sind häufig aufgrund ihrer Lebenslagen und Erlebnisse besonders empfänglich für Propaganda und alternative Lösungsvorschläge, mit denen sie sich von den älteren Generationen abgrenzen können. Die Vermeidung von Radikalisierung stellt also ein wichtiges Feld innerhalb der Jugendhilfe dar.
3. Beispiel
Max ist im letzten Monat 17 Jahre alt geworden und lebt in einer Wohngruppe. Er träumt von viel Geld und schnellen Autos. Diese Vorstellungen sind derzeit aber sehr unrealistisch. Nach seinem Hauptschulabschluss vor 2 Jahren hatte Max nicht direkt mit einer Ausbildung begonnen, sondern mit Aushilfstätigkeiten und begrenzten Arbeitsverträgen versucht, schnell viel Geld zu verdienen. Oft ist ihm bald wieder gekündigt worden. Hier waren insbesondere wiederholte Unzuverlässigkeit und fehlende Kritikfähigkeit wichtige Themen. Max fühlt sich unfair behandelt und kann die Kritik nicht annehmen. Dementsprechend sieht er auch keinen Ausweg aus seinem Problem. Die Situation frustriert ihn. Max fängt an, ein Feindbild in seinen früheren Arbeitgeber*innen, aber auch in der aktuellen politischen Lage zu sehen, da diese ihn nicht unterstützt, sondern eher behindert. Im Internet findet er eine Gruppe Menschen, die seine Einstellungen teilen. In seinem neuen Freundeskreis findet Max mit seinen Meinungen und Ansichten immer wieder Zustimmung und Unterstützung, anders als in seinem alten Umfeld. Er fängt an, sein Leben in den Dienst der Gruppe zu stellen und immer mehr Aufgaben zu übernehmen. Von seiner Familie und seinem Freundeskreis hat Max sich inzwischen distanziert. Für ihn zählen nur noch seine neuen Freunde. So hat Max dann auch keine Bedenken mehr, als die Gruppe ihn auffordert, an einer geplanten Körperverletzung teilzunehmen. Innerhalb weniger Monate hat Max alle Stufen des Radikalisierungsprozesses durchlaufen und sich so vollständig radikalisiert.
4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten und Kritik
Moghaddams Modell ist eines der bekanntesten Modelle zum Prozess der Radikalisierung. Jedoch kann auch hier eine kritische Sichtweise angebracht sein. Wie oben erwähnt, handelt es sich bei Radikalisierung um einen hochgradig individuellen Prozess, der seinen Auslöser in unterschiedlichen Gründen findet. Es ist daher nicht möglich, jeden Fall anhand dieses Modells abzuarbeiten. Manche Einzelfälle lassen sich keiner der Etagen zuordnen, können aber trotzdem als radikalisiert gelten. Aus diesem Grund gibt es eine Vielzahl von Radikalisierungsmodellen, sodass immer erst das passende Modell zum Einzelfall gefunden werden muss. Hierdurch könnte sich die Dauer, bis eine Intervention gestartet werden kann, deutlich verlängern.
Auf Moghaddams Modell direkt bezogen, lässt sich abschließend noch die Frage stellen, was passiert, wenn die fünfte und letzte Etage erreicht ist. Hier sind keine Interventions- oder Präventionsmaßnahmen mehr vorgesehen. Heißt dies, dass ein Weg aus der Radikalisierung an dieser Stelle nicht mehr möglich ist? Außerdem ist Moghaddams Modell sehr statisch. Die Realität, dass manche Fälle sich in keine oder mehrere Stufen einordnen lassen können, wird dadurch außen vor gelassen. Das Gleiche gilt für das Überspringen von Stufen. Dies wird in dem Treppenhaus-Modell auch nicht thematisiert.
Für Fachkräfte ist wichtig zu wissen, dass es in NRW bei islamistischer Radikalisierung zwei große Aussteiger- und Präventionsprogramme gibt. Es handelt sich um das Aussteigerprogramm Islamismus (API) und das Präventionsprogramm WEGWEISER. Beide sind gute Ansprechpartner, wenn ein möglicher Verdacht vorliegt oder Personen beim Ausstieg geholfen werden soll. Sie leisten einen wichtigen Beitrag bei der Deradikalisierung. Für Fachkräfte lässt sich abschließend sagen, dass Radikalisierung ein sehr komplexes Thema ist, bei dem sich das Hinzuziehen von professioneller Unterstützung und die Klärung von Zuständigkeiten auf jeden Fall lohnt.
5. Material / Links
Podcast: Aha! Zehn Minuten Alltags-Wissen: Warum radikalisieren sich Menschen ?
Coquelin, Mathieu/ Ostwaldt, Jens (2020): Extremismus und Radikalisierung – Eine Herausforderung für die Kinder- und Jugendarbeit In: Meyer, Thomas/ Patjens, Rainer (Hg.) (2020): Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS. S. 475 – 508
Dittmar, Vera (2023): Systemische Beratung in der Extremismusprävention: Theorie, Praxis und Methoden. Stuttgart: Kohlhammer