Kindern verzeihen
1. Beschreibung der Herausforderung
„Wenn jemand etwas Böses tut, so ist es am besten, wenn man ihm verzeiht.“ schreibt Janusz Korczak in seinem Buch „Wie liebt man ein Kind“. Durch Verzeihen schafft man einen Neuanfang. Die verzeihende Person befreit damit nicht nur die Person, der sie verzeiht, sondern auch immer sich selbst. Doch wie sieht es damit im pädagogischen Alltag aus?
Verzeihen wird vor allem zu einer Herausforderung, wenn beispielsweise die Fachkraft emotional involviert ist und sich von dem Verhalten eines Kindes verletzt fühlt. Herausfordernd ist auch die Art und Weise, wie das Verzeihen formuliert wird. Denn im besten Fall soll für das Kind ein gewisser Lerneffekt entstehen, sowie Klarheit darüber, dass es zwar ein Problem gab, welches thematisiert werden musste, nach dem Akt des Verzeihens aber trotzdem ein Schlussstrich gezogen werden kann.
2. Unterschiedliche fachliche Argumente/ Bedenken
erzeihen ist das einzige Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit, denn sonst würde jede Tat einen Menschen bis zu seinem Lebensende verfolgen. Zudem ist klar, dass Verfehlungen immer passieren werden und in der Natur des Handelns stecken. Diese Verfehlungen bedürfen einer Verzeihung, damit man sich immer wieder von den Folgen des Handelns befreien kann. Es zeigt sich, dass Verzeihen in jeder Art von Beziehung, immer stattfinden muss, um die Beziehung und die gegenseitige Achtung zu bewahren, denn Verzeihen bezieht sich nie auf die Tat selbst, sondern immer auf die Person der verziehen wird.
Janusz Korczak schreibt in seinem Werk „Das Recht des Kindes auf Achtung“, dass es notwendig ist zu verzeihen, wenn das Recht des Kindes auf Achtung realisiert werden soll. Er bringt den Begriff des Verstehens mit dem Verzeihen in Verbindung, denn versteht man eine Handlung, ist es einfacher zu verzeihen. Das bedeutet, dass möglicherweise der subjektive Sinn dahinter oder das Motiv betrachtet und angenommen wird. Auch das von ihm gegründete Kindergericht in seinem Waisenhaus sollte ein Ort des Verstehens und Verzeihens sein. Es gab 99 verzeihende Paragrafen und nur 10 Paragrafen, die die Angeklagten schuldig gesprochen haben. Ein Beispiel für einen verzeihendes Urteil ist: „Das Gericht kann ihm verzeihen und erklären, er habe schlecht gehandelt, oder den Rat bitten, ihm doch zu gestatten, einige Male im Monat von der Hausordnung abzuweichen.“ In diesem Rahmen wurde das Konzept des Verzeihens sowohl von Seiten der Kinder als auch von den Erzieher*innen gelebt.
Sieht man Strafe und Konsequenz im Gegensatz zum Verzeihen, fällt auf, dass beide unterschiedliche Dinge auslösen. Wie bereits erwähnt, erhält das Verzeihen den Zustand wechselseitiger Achtung, sofern dieser bereits besteht. Eine Sanktion hingegen erhält ausschließlich die Regeln der Institution, nicht aber die persönliche Beziehung.
Verzeihen spielt heute in der pädagogischen Praxis und auch in Fachdiskursen keine große Rolle. Weder wird in der Ausbildung von Fachkräften Sozialer Arbeit darüber gesprochen, noch taucht der Begriff in Konzepten von Jugendhilfeeinrichtungen auf. Verzeihen ist somit aktuell höchstens ein individuelles Vorgehen einzelner Fachkräfte, ohne dass es fachlich irgendwie gerahmt würde. Man kann daher etwas überspitzt konstatieren, dass Kindern zu verzeihen, aktuell eine fachlich nicht ernstzunehmende Aktivität ist.
Das kann daran liegen, dass es eine Sorge gibt, das Verzeihen könnte auch dazu führen, dass Regelverstöße nicht ernst genommen würden und sich manifestieren. Das kann tatsächlich passieren, wenn nicht artikuliert wird, dass ein Verhalten nicht richtig und akzeptabel war. Ein grundsätzliches Verzeihen von Regelbrüchen und Fehlverhalten ohne Austausch ist aber eher ein Hinnehmen und hat mit der Idee der Verzeihung nichts zu tun Erst wenn ein Problem deutlich angesprochen wird, kann dem Gegenüber anschließend auch verziehen werden. Wenn die Beziehung zu Kindern grundsätzlich einigermaßen intakt ist, kann Verzeihung die Gefahr einer Manifestation von Regelverstößen deutlich reduzieren.
Dass Verzeihen insofern eine ‚sehr effektive‘ pädagogische Maßnahme sein kann, schilderte schon Korczak im Jahr 1918: „Wenn er es getan hat, weil er es nicht besser wusste, so weiß er es jetzt. Wenn er unabsichtlich etwas Böses getan hat, so wird er in Zukunft vorsichtiger sein. Wenn einer etwas Böses getan hat, weil es ihm schwerfällt, sich anzupassen, wird er sich nun damit Mühe geben. Wenn es geschehen ist, weil jemand ihn dazu überredet hat, so wird er dem in Zukunft nicht mehr folgen. Wenn einer etwas Böses getan hat, so ist es am besten, ihm zu verzeihen und zu warten, bis er sich bessert.“ (Janusz Korczak: Wie liebt man ein Kind)
3. Fragen zum Weiterdenken
- Ist Verzeihen eine Praxis oder sogar Teil eines Konzepts, das in ihrer Einrichtung gelebt wird? Was müsste passieren, damit das Verzeihen bei Ihnen Teil der Kultur wird?
- In welchen Situationen würden Sie von Anfang an sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen Kindern auf keinen Fall verzeihen sollten? Sehen Sie Situationen oder Verhaltensweisen, bei denen definitiv eine Konsequenz folgen muss?
- Können Sie sich innerhalb einer Einrichtung Institutionen vorstellen, die das Verzeihen regulieren und zum Teil garantieren, wie bei Janusz Korczak das Gericht? Könnte dies im Beschwerdemanagement einen Platz finden?