Phasen der Gruppenentwicklung nach Bernstein/Lowy
Das 5-Phasenmodell von Bernstein und Lowy aus dem Jahr 1975 beschreibt die idealtypische Entwicklung von Gruppen. Viele Gruppen, die eine bestimmte Gruppenphase erreicht haben, fallen kurz in eine vorhergehende zurück oder wiederholen diese. Manchmal überspringen Gruppen auch eine Phase. Sie entwickeln sich nicht linear, sondern wie eine Spirale. Um die Phasen positiv abzuschließen, sollten Leiter*innen der Gruppe sein/ihr Verhalten in der jeweiligen Phase anpassen und die Gruppe begleiten.
1. Ziele der Methode
Das 5 Phasenmodell ermöglicht die Ressourcen von Gruppen zu erkennen und zu stärken. In Gruppen können soziale Kompetenzen entwickelt werden, wenn die Gruppe lernt, mit Konflikten umzugehen und sie zu bewältigen. Das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe wird gefördert, indem gemeinsame Ziele und Aufgaben bearbeitet werden. Individuen versetzen sich in bestimmte Rollen und Situationen hinein und lernen mit Schwierigkeiten, Misserfolgen und Erfolgen umzugehen.
2. So geht das
1 Phase: Orientierungsphase
Diese Phase ist durch das Merkmal „Ankommen“ in der Gruppe gekennzeichnet. Die einzelnen Teilnehmer*innen beobachten sich gegenseitig und versuchen anschließend erste Sicherheit zu gewinnen. In dieser Phase können Teilnehmer*innen Unsicherheit, Distanz und Zurückhaltung zeigen. Die einzelnen Mitglieder*innen gehen noch keine festen Bindungen ein.
Die Aufgabe der Gruppenleitung ist es, klare Strukturen zu geben und gemeinsam mit der Gruppe Regeln aufzustellen. Methoden, die das Kennenlernen in Gruppen erleichtern, sollten auf die Gruppe abgestimmt werden. Zu den Aufgaben gehört auch, die Unsicherheiten der einzelnen Teilnehmer*innen wahrzunehmen.
2 Phase: Machtkampfphase
In der zweiten Phase begreifen sich die Individuen bereits als Gruppe. Es beginnt ein Prozess des Rollen-Findens. Alle Teilnehmer*innen nehmen sich bewusst wahr, so können zum Teil starke Machtkämpfe entstehen. Vielen Teilnehmer*innen ist es wichtig, Einfluss auf das Gruppengeschehen zu nehmen und Macht auszuüben.
Hier sollten Leiter*innen die Gruppe intensiver beobachten und schauen, welche Rollen sich gebildet haben oder wie die Teilnehmer*innen mit dem Machtkampf umgehen. Außerdem sollten klare Grenzen gesetzt werden.
3 Phase: Vertrautheitsphase
Die Mitglieder identifizieren sich mittlerweile mit der Gruppe und es entsteht ein starkes Wir-Gefühl. Man kennt die Stärken und Schwächen der Anderen. Die Teilnehmer*innen fühlen sich sicher und zugehörig. In dieser Phase hat die Gruppe den höchsten Grad ihrer Produktivität erreicht. Es entstehen Gruppenregeln, Normen und Ziele, so wie die Aufgabenverteilung.
Die Aufgabe der Gruppenleitung ist es, der Gruppe Freiräume zu schaffen, in denen sie sich als zusammengehörig empfindet. Auch sollen Gruppenleiter*innen die Gruppe beobachten und Konflikte, die die Gruppe nicht selbst lösen kann, gemeinsam mit ihr aufarbeiten.
4 Phase: Differenzierungsphase
In dieser Phase werden die Fähigkeiten und Persönlichkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder akzeptiert. Der Gruppenzusammenhalt hat sich nun verfestigt. Die Gruppe ist in der Lage, anstehende Aufgaben gemeinsam zu bearbeiten. Die Gruppe hält zusammen.
Nun können Gruppenleiter*innen sich etwas zurückziehen und eine passivere Rolle einnehmen. Dennoch sollten sie auf ihren Standort achtgeben. Die Gruppe trifft selbst bevorstehende Entscheidungen.
5 Phase: Trennungsphase
In dieser letzten Phase kommt es zu einer Auflösung der Gruppe. Die Trennung wird als schmerzlich empfunden. Die positive Bewältigung dieser Phase ist wichtig, damit jedes Gruppenmitglied die Gruppe aktiv und einverstanden aufgeben kann, so dass keine diffusen und ungeklärten Gefühle zurückbleiben.
Die Auflösung der Gruppe muss vorbereitet sein, damit die Gruppe sich langsam auf die Trennung einstellen kann. Beispielsweise kann ein Abschiedsfest organisiert werden, um den Abschied zu erleichtern.
3. Beispiel
In der Orientierungsphase spielen die Kinder oft alleine, weil die sich untereinander noch nicht kennen. Sie orientieren sich an anderen oder an den Erwachsenen, von denen sie sich Sicherheit versprechen.
In der Machtkampfphase entstehen die ersten Annäherungsversuche und die Kinder versuchen, sich in der Gemeinschaft zu behaupten und ihren Platz zu finden.
Nachdem jedes Kind seinen/ihren Platz in der Gruppe gefunden und die Stärken sowie Schwächen der Anderen kennt und akzeptiert hat, spricht man von der Vertrautheitsphase. Das „Wir-Gefühl“ tritt ein.
In der Differenzierungsphase ist die Gruppe imstande, Konflikte auch ohne erwachsene Mithilfe zu lösen. Jedes Kind wird als eine eigenständige Persönlichkeit akzeptiert.
Bei der Trennungsphase steht die Trennung an. Meistens ist diese verbunden mit dem Austritt aus dem Tages- oder Wohngruppe. Emotionen, wie Abschiedsschmerz oder auch Vorfreude auf eine neue Lebensphase lassen sich erkennen.
4. Fragen, Anpassungsmöglichkeiten und Kritik
Gruppen entwickeln sich, durchlaufen aber nicht unbedingt diese fünf Phasen – schon gar nicht immer in der gleichen Reihenfolge. Auch können Phasen übersprungen oder wiederholt werden. So kann z.B. die Orientierungsphase mehrmals durchlaufen werden, wenn neue Kinder oder Fachkräfte in die Gruppe kommen. Insgesamt wurde das Modell für Gruppen beschrieben, die gemeinsam beginnen, dann eine Weile zusammenleben bzw. -arbeiten und sich dann wieder trennen. Dies gilt z.B. für Projektgruppen, aber auch für Kinder- und Jugendgruppen in Sportvereinen und Jugendverbänden.
Das Modell müsste für die Reflexion der Gruppensituation in Wohn- und Tagesgruppen differenziert werden. Hier kommen immer nur vereinzelt neue Kinder und Erwachsene zur Gruppe hinzu und andere verlassen die Gruppe. Es kann gut sein, dass bei jeder Neuaufnahme und jedem Abschied die Gruppenphasen nach Bernstein/Lowy erkennbar werden. Es kann aber auch sein, dass eine Gruppe sehr stabil ist und ein neues Mitglied sich schnell einfügt, so dass kein Rückfall in frühere Gruppenphasen erfolgt. Dazu tragen auch Patenschaftssysteme für neue Mitglieder, Rituale wie Aufnahme- und Abschiedsfeiern und Partizipationsangebote bei, die es neuen Mitgliedern erlauben, ihren Platz in der Gruppe zu finden, ohne die Gesamtstruktur und -kultur der Gruppe in Frage zu stellen, wie dies in der Machtkampfphase ansonsten der Fall ist.
Das Gruppenphasenmodell wirft die Frage auf, wie Fachkräfte frühzeitig Veränderungen und Entwicklungen im Gruppenleben wahrnehmen und verstehen können und wie sie darüber hinaus vorsichtig Einfluss auf die Gestaltung der Phasen nehmen können. Es geht dabei weniger darum, Auseinandersetzungen zu vermeiden, sondern eher sollte angestrebt werden, dass durch jede Neuaufnahme bestehende Routinen und Machtstrukturen immer wieder in Frage gestellt werden. Jedes neue Gruppenmitglied bedeutet zunächst einmal eine Lernchance für die Gruppe.